Experte zum Tod von Sekten-Guru Samuel Widmer (†68)
«Ein gewaltiges Trauma für die Kirschblütler»

Samuel Widmer, der umstrittene Psychotherapeut und Anführer der Kirschblütler, ist im Alter von 68 Jahren verstorben. Ein Experte erklärt, was das für die sektenähnliche Gemeinschaft bedeutet.
Publiziert: 19.01.2017 um 18:00 Uhr
|
Aktualisiert: 12.09.2018 um 12:58 Uhr
1/2
Starb an Herzversagen: Der umstrittene Lüsslinger Arzt und Psychotherapeut Samuel Widmer.
Foto: Marcel Bieri/BLICK
Interview: Gregory Remez
Theologe und Sekten-Experte Georg Schmid.

BLICK: Was bedeutet der Tod von Samuel Widmer für die Kirschblütengemeinschaft?
Georg Schmid (50), Sekten-Experte:
Herr Widmer betonte immer wieder, dass die Kirschblütler keine zentralistisch organisierte Gemeinschaft sind. Zwar stritt er nicht ab, dass es wichtige Figuren gibt, die die Gemeinschaft zusammenhielten, doch bestand laut ihm keine nominelle Hierarchie unter den Mitgliedern. Jetzt wird sich zeigen, ob das tatsächlich so war. Im Grunde gibt es drei mögliche Szenarien: Erstens, die Mitglieder bleiben zusammen und halten dogmatisch an Herrn Widmers «Philosophie» fest. Zweitens, jemand tritt seine Nachfolge an und entwickelt seine «Philosophie» weiter; sollten mehrere Mitglieder die Nachfolge für sich beanspruchen, ist auch eine Spaltung denkbar. Drittens, die Gemeinschaft bricht auseinander. 

Ist denn ein Nachfolger in Sicht?
Von Aussteigern hörte man immer wieder, dass es an Herrn Widmers Seite keine starken Männer vertrug. Er war das unbestrittene Alphamännchen. Dass nun also eines der männlichen Mitglieder, das sich bis anhin mit einer Nebenrolle zufriedengab, plötzlich in eine Alpha-Position drängt, halte ich aus psychologischer Sicht für unwahrscheinlich. Ich kann mir aber vorstellen, dass eine seiner Frauen die Nachfolge antritt, zumindest kurzfristig.

Was passiert mit den über 200 Mitgliedern?
Das ist im Moment noch vollkommen offen. Es tritt nun sicher eine Phase der Orientierungslosigkeit ein, in der Spaltungstendenzen wahrscheinlich sind. In der Regel ist es für derartige Gemeinschaften extrem schwierig, wenn eine so prägende Figur wie Samuel Widmer plötzlich wegbricht. Das ist ein gewaltiges Trauma, da kommt es fast zwangsläufig zu einer Krisensituation.

Welches Szenario halten Sie nun für das wahrscheinlichste?
Es ist zwar möglich, dass die Mitglieder in ihrer derzeitigen Form zusammenbleiben und dogmatisch an der bisherigen «Philosophie» festhalten. Dafür gibt es in der Geschichte zahlreiche Beispiele, etwa als Paul Kuhn, der Gründer des  St. Michaelwerks in Dozwil TG, verstarb. Da Herr Widmer aber nie ein Dogmatiker war und seine Vorstellungen immer wieder selbst herausforderte, halte ich es für wahrscheinlicher, dass ein oder mehrere Nachfolger Widmers «Philosophie» neu interpretieren. 

Wie wahrscheinlich ist es, dass sich die Gemeinschaft auflöst?
Sollte sich kein vernünftiger Nachfolger finden, ist mittelfristig ein Auseinanderbrechen der Gemeinschaft möglich. Schnell wird dies aber nicht passieren. Dafür sind die Mitglieder zu stark miteinander verbunden, auch wirtschaftlich. Sie wohnen ja miteinander. Da dauert es nur schon eine gewisse Zeit, bis jemand weggezogen ist. 

Sind die Kirschblütler eigentlich eine Sekte?
Die Kirschblütler sehen sich selbst als alternative Gemeinschaft, ich würde sie als «utopische Gemeinschaft» bezeichnen. Zwar weisen sie bestimmte Merkmale einer Sekte auf, etwa die Verehrung von Samuel Widmer, der einen Guru-ähnlichen Status hatte. In anderen Punkten weichen sie jedoch von der Sekten-Definition ab. So wird Mitgliedern nicht eine Form der «Erlösung» versprochen und Aussteigern nicht mit der «Verdammnis» gedroht. Auch hat sich Herr Widmer nicht an den Mitgliedern bereichert. Meiner Meinung nach sind die Kirschblütler knapp daran vorbeigeschrammt, eine Sekte zu werden.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?