Peter Regli (76), den ehemaligen Chef des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB), trifft die vermeintliche Terrorattacke in Lugano besonders. «Es war eine schlechte Nachricht, eine traurige. Sie passierte in meinem Heimatkanton, das trifft mich emotional», sagt Regli zu BLICK.
Der Schweizer Nachrichtendienst habe bereits vor Jahren vor diesen Anschlägen gewarnt, unterstreicht Regli. «Ich musste schmunzeln, als ich die Politiker hörte. Die Politik kommt aus den Löchern raus, wenn etwas passiert und Blut fliesst. Danach vergisst man es wieder.»
Gefährder lückenlos kontrollieren, wäre enormer Aufwand
Expertin Miryam Eser (56) ist nicht überrascht vom Attentat. «Es hätte jede Stadt treffen können, aber unsere ausgewerteten Daten zu dschihadistischen Gefährdern in der Schweiz von 2019 zeigen, dass sowohl der Genferseeraum als auch das Tessin stärker von der Radikalisierung betroffen sind als andere Regionen.» Die Täterin stammt aus der Nähe von Lugano – und hat laut Regli den Anschlag dort verübt, wo sie sich zu Hause fühlt.
Dank der Zusammenarbeit mit internationalen Nachrichtendiensten könne man viele dieser Personen identifizieren. «Es sind derzeit ungefähr 60 Gefährder. Wenn wir diese Gefährder lückenlos kontrollieren wollten, wäre das ein enormer Personalaufwand. Um eine Person überwachen zu können, brauchen wir 20 bis 25 Beamte. Das geht nicht auf mit unserer Polizei.» Im Jahr 2019 waren fünf radikalisierte Personen im Tessin, sagt Eser.
Tessiner Regierungsrat klagt über fehlende Kapazität
Auch der Tessiner Regierungsrat Norman Gobbi sagt zu BLICK, dass der Kanton nicht genügend Mittel zur Verfolgung der Gefährder habe. Ob der Angriff geplant war, wisse man jetzt noch nicht. «Positiv ist, dass die Täterin überlebt hat. Wichtig ist jetzt die Befragung», sagt Regli. Dafür dass ein Netzwerk oder Mittäter hinter der Frau stehen, gebe es zurzeit keine Hinweise, sagt der Regierungsrat.
Die Täterin ist diesmal eine Schweizer Frau, die sich 2017 in einen dschihadistischen Kämpfer aus Syrien verliebte, danach in die Psychiatrie kam.
Weibliche Terroristinnen sind eher ungewöhnlich. «In der Schweiz sind elf Prozent der radikalisierten Personen Frauen. Dass auch Frauen zu einer Gewalttat schreiten können, hat sich auch in Deutschland und Frankreich gezeigt», sagt Eser.
Entradikalisierung ist enorm schwierig
Solche Menschen zu entradikalisieren, sei ein schwieriges Unterfangen, so Eser – und brauche intensive Programme, welche radikalisierte Personen zum Beispiel im Rahmen des Strafvollzugs oder im Anschluss dazu bringt, sich mit ihren Überzeugungen auseinanderzusetzen und sie zu hinterfragen. «Dafür braucht es Auflagen, die von Richtern ausgesprochen werden.»
Dadurch können dann Risse im Gedankengebäude entstehen, die über die Zeit in einer intensiven Auseinandersetzung auf mehreren Ebenen – beispielsweise Ideologie, Religion, Gewaltbereitschaft, Integration – zu einer Distanzierung vom Extremismus führen können. (szm)