Erst Spital, dann Hospiz
In Ruhe sterben? Nicht möglich

Ein 38-jähriger Vater ist sterbenskrank. Kurz vor seinem Tod muss er auch noch umziehen.
Publiziert: 15.03.2024 um 10:29 Uhr
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Aktualisiert: 15.03.2024 um 12:31 Uhr
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Jasmine Helbling
Beobachter

David Kleussner will Würste im Winter. Ein letztes Grillfest, weil er den Sommer nicht erleben wird. Viele Wünsche hat er festgehalten – dieser wird sich nicht erfüllen. Seinen Geburtstag verbringt der 38-Jährige im Sterbehospiz. Das Personal schenkt ihm Socken mit Christbäumen, seine Frau bringt das Baby und sein Lieblingsessen: Sauerbraten und Klösse. Doch David Kleussner hat keinen Hunger. «Das gehört zum Sterben dazu», sagt er.

Eine Woche später will er den Sauerstoff abschalten. Ein paar Stunden darauf hört sein Herz auf zu schlagen. Es ist der zwölfte Tag im Hospiz, der 24. Dezember 2023. Zu Hause warten Geschenke für die Kinder.

Davids Humor

«Das Leben lief einfach weiter», sagt Seraina Kleussner an einem grauen Februartag. Die 35-Jährige sitzt in ihrem Büro, an der Türe kleben dreidimensionale Buchstaben: «Mount Everest der unerledigten Akten» – Davids Humor. «Wenn er Kraft hatte, vergrub er sich im Bastelkeller und hantierte mit dem 3-D-Drucker.» Das Paar hat sich vor zwei Jahren ein Haus in einem Aargauer Dorf gekauft. Hier wachsen die Kinder in einer Nachbarschaft voller Spielkameraden auf.

2023 war ein schlimmes Jahr für die Familie. Nichts lief nach Plan – einiges macht Seraina Kleussner noch immer zu schaffen. «Der Tod lässt sich nicht planen», sagt sie. Egal, wie lange man sich vorbereitet.

Eine Begegnung wie im Film

Herbst 2010. Seraina stösst ihren Koffer durch den Zug, David macht ihr Platz. Wo sie hinreise, will er wissen. Nach London, antwortet sie, und fragt zurück. Ans Unispital, sagt er, zur Abklärung für eine Lungentransplantation. Plötzlich ist es kein Smalltalk mehr – da sprechen zwei Fremde wie Freunde. Beim Abschied tauschen sie Telefonnummern aus. Die gemeinsame Zugfahrt ist nach zehn Minuten vorbei. Die Beziehung wird 13 Jahre dauern.

Richtig gesund ist David Kleussner in dieser Zeit nie. Der gebürtige Deutsche kam mit zystischer Fibrose zur Welt, einer Störung des Stoffwechsels. In der Lunge und auf der Bauchspeicheldrüse bildet sich zäher Schleim, der Atmung und Verdauung behindert. Irgendwann ist sein Lungengewebe so zerstört, dass David Kleussner zu ersticken droht. Mit 26 erhält er eine Spenderlunge implantiert.

Vier Jahre läuft alles gut, dann führt eine Grippe zu einer akuten Abstossung. Kleussner benötigt einen Rollstuhl, Sauerstoff und schliesslich eine neue Lunge. Im Dezember 2015 glückt die zweite Transplantation.

«Man darf immer mit dem Leben rechnen»

2019 kommt der gemeinsame Sohn zur Welt. «Wir haben schon früh über Kinder gesprochen. Es waren ehrliche, teils schwierige Diskussionen», sagt Seraina Kleussner. Was, wenn sich Davids Zustand verschlechtert? Könnte sie allein für die Kinder sorgen? Irgendwann beschliesst das Paar, nicht alles in den Schatten der Krankheit zu stellen. «Die Organspenden haben David wertvolle Zeit geschenkt. Das hat uns gezeigt, dass man immer mit dem Leben rechnen darf und nicht vom Schlimmsten ausgehen muss.»

Und doch trifft es ein. 2020 kommt es zu einer chronischen Abstossung. Jeden Monat fährt David Kleussner zur Behandlung ins Unispital, geht zur Reha – vergebens. Eine dritte Transplantation kommt nicht in Frage. Der lange Abschied beginnt – und die Sorgen nehmen kein Ende: Im Sommer 2023 kommt die gemeinsame Tochter mit einem Herzfehler zur Welt. Nach der Geburt muss sie vier Monate im Spital bleiben.

David Kleussner hat zu dieser Zeit bereits starke Atemnot. Zu Hause kann er nicht bleiben, also meldet ihn die Palliativspitex im Spital Zofingen AG an. Am 29. November bekommt das Paar ein Zimmer auf der Palliativstation. Der Ort, wo er in Würde sterben kann, scheint gefunden. Der Frieden hält aber nicht lange an.

Sterben nicht erwünscht

Am zweiten Morgen liegt im Zimmer eine Einladung zum «runden Tisch» – einer Standortbestimmung, bei der das Pflegeteam, Angehörige und Patienten über Ziele sprechen. Die junge Mutter kann am geplanten Termin nicht, weil das Baby zum Arzt muss. Also bittet sie die ärztliche Leiterin der Palliativstation, das Gespräch auf einen Morgen zu legen. Das sei nicht möglich, heisst es – die Spezialtherapeuten könnten nur am Nachmittag.

«Dabei wollte David keine weiteren Massnahmen und nahm nur noch Physio zur Atemerleichterung in Anspruch», erzählt Seraina Kleussner. Die Stationsleiterin habe zynisch reagiert. «Sie sagte, das sei ein Spital und kein Wunschkonzert. Zudem brauche es mich beim runden Tisch gar nicht, noch sei mein Mann ja ansprechbar.»

«Ich war fassungslos»

Irgendwann äussert David Kleussner, dass er nicht mehr lange leben werde – und wieder folgen Sätze wie Nadelstiche: «Das wissen Sie ja nicht. Oder sind Sie schon einmal gestorben?»

«Ich war fassungslos und musste das Gespräch abbrechen», erinnert sich Seraina Kleussner. Noch am selben Tag beschwert sie sich schriftlich beim leitenden Arzt der Inneren Medizin – ruhig und sachlich. «In einer Situation, in der mein Ehemann in einem so kritischen Zustand ist, erwarte ich eine angemessene Kommunikation und ein respektvolles, einfühlsames Vorgehen seitens des ärztlichen Teams», heisst es in der E-Mail. Ein klärendes Gespräch findet ohne die ärztliche Leiterin der Palliativstation statt. Eine Entschuldigung bleibt aus.

Das Spital schweigt

Auf Anfrage des Beobachters will sich das Spital Zofingen nicht zum konkreten Fall äussern. Die Schweigepflicht gelte über den Tod hinaus, eine Vollmacht der Ehefrau genüge nicht. Seraina Kleussner kann das nicht nachvollziehen: «Die Stationsleiterin war ja auch mit mir, einer trauernden Angehörigen, unfreundlich. Schade, dass sie ihre Beweggründe nicht erklärt.»

Es bleibt aber nicht beim Ärger über den Umgangston: David Kleussner muss sich eine neue Bleibe suchen. «Die Palliativstation ist kein Hospiz, sondern ein Teil des Akutspitals, die Aufenthaltsdauer ist deshalb begrenzt», heisst es auf der Website.

Auf Nachfrage konkretisiert das Spital: Behandelt werden Patienten in komplexen und instabilen Situationen. Manche treten so spät im Krankheitsverlauf ein, dass sie innert weniger Tage versterben. Andere könnten wieder nach Hause oder wechseln in eine Pflegeinstitution.

Sterben ist teuer

Der Unterschied zwischen einer Palliativstation und einem Hospiz ist vielen Patienten nicht bewusst. «Der Föderalismus erschwert den Durchblick. Das Angebot unterscheidet sich von Kanton zu Kanton, von Institution zu Institution», sagt Renate Gurtner Vontobel, Geschäftsführerin der Fachgesellschaft Palliative.ch. Das betreffe auch die Aufenthaltsdauer auf einer Palliativstation. «Die Vollfinanzierung ist für drei Wochen gegeben – danach zahlt ein Spital drauf. Manche finanzieren solche Kosten quer, andere können es sich nicht leisten.»

In Deutschland gehört die Palliativmedizin zur Grundversorgung und wird von den Kassen übernommen. Die Schweiz ist davon weit entfernt. Noch immer wird nach einem starren Fallpauschalensystem abgerechnet. Spitäler erhalten pro Patient einen Fixbetrag. Wenn dieser aufgebraucht ist, werden Betroffene in eine Langzeitpflege überführt. Dort müssen sie einen Teil der Kosten selbst tragen. Hinzu kommt: In der Schweiz gibt es nur neun Sterbehospize, sieben weitere sind im Aufbau.

Die letzten Tage – mit Crowdfunding finanziert

Das Spital Zofingen hilft den Kleussners bei der Suche, in der Zwischenzeit darf David bleiben. Oft ist er in diesen Tagen gereizt, der bevorstehende Umzug setzt ihm zu. «Auf Übelkeit folgte Heisshunger. Manchmal lief ich los, weil er Wurstsalat wollte. Als ich damit zurückkam, war ihm wieder schlecht», sagt Seraina Kleussner. Seinen Humor habe er aber nie verloren. «Einmal trug ich unbeabsichtigt von Kopf bis Fuss Schwarz. Da fragte er, ob ich etwa schon Witwe sei. Darüber konnten wir lachen.»

Am 12. Dezember tritt David Kleussner ins Zürcher Hospiz Lighthouse ein, wo er in seinem eigenen Tempo sterben darf. Aber das hat seinen Preis: knapp 300 Franken pro Tag, je 500 Franken für den Ein- und Austritt, weitere Ausgaben für Medikamente und Hilfsmittel. Kosten, die das Paar nur mit einem Crowdfunding decken kann.

Dafür kann das Personal die Symptome lindern. Oft schwebt David Kleussner in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen. «Er sprach nicht mehr viel. Nur am Abend vor seinem Tod wollte er wissen, ob er nun sterbe», erinnert sich Seraina Kleussner. Sie fragt, ob es sich so anfühle – er nickt. Am nächsten Tag wartet das Paar gemeinsam auf den Tod. Am 24. Dezember nimmt der lange Abschied ein Ende.

Papa-Tag in schweren Zeiten

Seraina Kleussner regelt letzte Dinge. Weil ihre Tochter lange im Spital war, konnte die kaufmännische Angestellte ihren Betreuungsurlaub verlängern. So bleibt etwas Zeit – für die Trauer, für die Kinder. Beide haben eine Erinnerungskiste mit Ausweisen, T-Shirts und Fotos ihres Papas. «Mein Sohn legt ständig neue Zeichnungen rein. So viele, dass die Kiste bald platzt.» Er könne noch nicht verstehen, was «für immer» heisst.

Selbst ihr falle das ab und zu schwer. «Natürlich vermisse ich David. Daneben macht es mich betroffen, wie er in dieser sensiblen Phase behandelt wurde. Der Druck und die fehlende Empathie waren seines Lebens nicht würdig.» Was hilft: Papa-Tage. Dann fährt die Familie zu McDonald’s, isst Spaghetti, schaut Youtube, macht Quatsch. Das hätte David gefallen.

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