Foto: Getty Images

Ernährungsexpertin prophezeit für die Zukunft
«Supergesunde Ernährung wird ihren Reiz verlieren»

Der Zwang, gesund zu essen, nimmt zu. Expertin Bettina Isenschmid erklärt, wer betroffen ist – und wie man sich gegen diesen 
inneren Zwang wehrt.
Publiziert: 06.01.2019 um 12:37 Uhr
|
Aktualisiert: 07.01.2019 um 09:00 Uhr
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«Typisch für Orthorektiker ist, dass sich ihre Gedanken zwanghaft nur noch um das richtige Essen drehen», sagt Bettina Isenschmid, Leiterin des Kompetenzzentrums Adipositas, Essverhalten und Psyche beim Spital Zofingen.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Rebecca Wyss

Nach den Tagen der Schlemmerei kommt nun in vielen Haushalten Gesundes auf den Tisch. Ab wann wird dieses Verhalten krankhaft?
Bettina Isenschmid: Wenn die Belastung für den Menschen so gross wird, dass er leidet. Der ­Fokus auf gesundes Essen muss noch keine Orthorexie sein. Das liegt ja im Trend. Typisch für ­Orthorektiker ist, dass sich ihre Gedanken zwanghaft nur noch um das richtige Essen drehen. Und dass die Auswahl der ­Lebensmittel, die sie sich selbst erlauben, immer kleiner wird.

Wo führt das hin?
Es kann zu einem Mangel an ­lebenswichtigen Stoffen oder ­sogar zu einer psychischen ­Erkrankung führen. Oft zieht die Krankheit auch Angehörige in Mitleidenschaft.

Inwiefern?
Bei uns suchte einmal ein Mann Rat wegen seiner orthorektischen Frau. Sie duldete nur noch Lebensmittel im Haus, die sie selbst essen konnte. Also fuhr er ab und zu heimlich mit den Kindern in eine Pizzeria. Auf dem Heimweg mussten sie aber noch im Auto ihre Kleider wechseln. Wenn die Mutter die Pizza gerochen hätte, hätte es sie in enorme Angst davor versetzt, dass ihre Familie geschädigt worden sein könnte.

Wer ist besonders gefährdet?
Menschen, die grundsätzlich unsicher mit sich und ihrem Platz in der Welt sind. Mit der Fixierung auf das richtige Essen verschaffen sie sich selbst ein Gefühl der Kontrolle. Es beruhigt sie.

Unter Essstörungen leiden in der Mehrheit Frauen. Wie ist es bei der Orthorexie?
Sie trifft Frauen und Männer gleichermassen. Die Frauen sind tendenziell jünger, bis etwa 35 Jahre alt. Sie leben meist in einem intakten sozialen Umfeld. Sie sind gebildet, achten auf ihre Gesundheit und treiben Sport. Aber sie sind grundsätzlich angespannt, ängstlich und machen sich viele Sorgen um sich und andere.

Und die Männer?
Diese sind meist zwischen 20 und 50 Jahre alt, sehr sportlich und erfolgreich im Job. Sie verspüren einen hohen gesellschaftlichen Leistungsdruck. Dieser kann zu gesundheitsgefährdenden Aktionen führen, wenn sie beispielsweise im Internet Präparate zur Ernährung und Leistungssteigerung bestellen, die potenziell schädlich sind.

Sie sprechen das Geschäft mit der gesunden Ernährung an.
Genau diesen kommerziellen Hype kritisiere ich. Wenn die Nahrungsmittelindustrie immer mehr Super- und Healthfood produziert, ist das Wasser auf die Mühlen von Menschen, die sich unsicher fühlen.

Wann wird es schädlich?
Orthorektiker sind vielerlei Gesundheitskonzepten gegenüber häufig erstaunlich unkritisch. Wenn die Schauspielerin Gwyneth Paltrow auf Instagram ihre Rohkosternährung propagiert, gibt es Nachahmer, die Bohnen roh essen und dann gesundheitlich Probleme bekommen. Solche und ähnliche Fälle erleben wir.

Wie konnte es zu diesem 
Ernährungshype kommen?
Die Art und Weise, wie die Gesellschaft mit Unsicherheit umgeht, ist dem Zeitgeist unterworfen. Als die ersten Atomwaffen aufkamen, hatten viele Angst, durch Radios oder Wasseradern verstrahlt werden zu können. Heute macht man sich darüber kaum noch Gedanken. Dafür haben wir umso mehr Angst, wir könnten ­etwas essen, was uns verunreinigt. Doch auch das Thema der supergesunden ­Ernährung wird einmal an Reiz verlieren und ein anderes wird an seine Stelle treten. 

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Längst nicht alle, die auf gesunde Ernährung 
achten, leiden an Orthorexie. Wer die Mehrheit der nachfolgenden Fragen bejaht, sollte eine Fachperson aufsuchen.

  • Denken Sie mehr als drei Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?
  • Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
  • Ist Ihnen wichtiger, wie viele Nährstoffe Ihr Essen enthält, als wie gut es schmeckt?
  • Wenn Sie ehrlich sind: Haben Sie das Gefühl, je gesünder Sie sich ernähren, desto schlechter ist Ihre Lebensqualität?
  • Sind Sie in letzter Zeit strenger mit sich geworden?
  • Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?
  • Verzichten Sie auf ­Lebensmittel, die Sie ­früher gerne gegessen haben, weil sie zu wenig gesund sind?
  • Treffen Sie wegen Ihrer Essgewohnheiten Freunde und Familienangehö­rige seltener als früher?
  • Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrer Diät abweichen?
  • Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle, wenn Sie sich gesund ­ernähren?  

Längst nicht alle, die auf gesunde Ernährung 
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