Eric Bizimana* (52) grüsst ein Mädchen, das an ihm vorbeispringt. «Musst du zur Schule?» Die Kleine schüttelt den Kopf. «Nein, ich habe frei und gehe auf den Spielplatz.» Der Mann schmunzelt. Doch als SonntagsBlick ihn auf seine Vergangenheit in Ruanda anspricht, friert das Lächeln ein: «Das liegt lange zurück. Darüber möchte ich nicht sprechen.»
Verständlich: Bizimana ist verurteilter Kriegsverbrecher. Vor zehn Jahren beschloss das Bundesgericht, dass er die Schweiz verlassen muss. Heute lebt er immer noch im Kanton Freiburg.
Der Bauernsohn hatte es in seiner Heimat weit gebracht. 1992 wählte ihn die Gemeinde Mushubati zum Bürgermeister. Zwei Jahre später kam es in Ruanda zum Völkermord an den Tutsi. Auch Bizimana war daran beteiligt. Am 31. Mai 1994 trommelte er die Hutu-Einwohner zusammen und forderte sie auf, alle Tutsi im Ort zu töten. Die rund 200 Anwesenden folgten der Hasspredigt. Wie viele Menschen sie ermordeten, ist unklar.
Besonders verstörend: Der Bürgermeister besuchte auch ein Camp, in das viele Tutsi aus der Region geflüchtet waren. Ihnen berichtete er, die Situation habe sich entspannt und sie sollen nach Mushubati zurückkehren. Doch dort wartete der von ihm angestachelte Mob der Hutu.
Seit der Kolonialzeit gab es in Ruanda Spannungen zwischen den Volksgruppen der Hutu und der Tutsi. Sie eskalierten 1994, als das Flugzeug des Hutu-Präsidenten abgeschossen wurde. Seine Anhänger bewaffneten sich mit Macheten, Gewehren und Nagelkeulen. Brutal schlachteten sie Tutsi ab, aber auch viele moderate Hutu. Erst nach 100 Tagen wurde der Völkermord beendet. Rund 800'000 Menschen – fast 75 Prozent der Tutsi im Land – waren dem entfesselten Mob zum Opfer gefallen.
Seit der Kolonialzeit gab es in Ruanda Spannungen zwischen den Volksgruppen der Hutu und der Tutsi. Sie eskalierten 1994, als das Flugzeug des Hutu-Präsidenten abgeschossen wurde. Seine Anhänger bewaffneten sich mit Macheten, Gewehren und Nagelkeulen. Brutal schlachteten sie Tutsi ab, aber auch viele moderate Hutu. Erst nach 100 Tagen wurde der Völkermord beendet. Rund 800'000 Menschen – fast 75 Prozent der Tutsi im Land – waren dem entfesselten Mob zum Opfer gefallen.
Zwei Monate später, als Truppen der Opposition die Ortschaft einnahmen, flüchtete Bizimana in die Schweiz. Hier erhielt er politisches Asyl, fand mit der Familie eine Bleibe in Freiburg. Der Ruander wollte studieren, schloss sich der freiwilligen Feuerwehr an.
Bis ihn im Sommer 1996 die Vergangenheit einholte: Mehrere Zeugen hatten sich gemeldet und von den Gräueltaten berichtet. Der Ruander kam in Untersuchungshaft. Schliesslich klagte ihn die Militärjustiz wegen folgender Punkte an: Mord, versuchter Mord, Anstiftung zum Mord, verschiedene Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Über 70 Zeugen hörte das Lausanner Divisionsgericht an. Eine Delegation reiste nach Mushubati, um überlebende Opfer zu befragen. Die Richter liessen viele Anklagepunkte fallen – oft aus technischen Gründen. So war «Völkermord» damals noch nicht im Schweizer Strafrecht verankert. Bizimana beteuerte stets seine Unschuld. Dennoch verhängten die Richter 1999 wegen Kriegsverbrechen eine lebenslange Strafe im Zuchthaus. Nach seiner Entlassung sollte der Ruander die Schweiz verlassen.
«Kein Zufluchtsort für Verbrecher seiner Sorte»
Das Urteil sorgte international für Schlagzeilen. «Bürgermeister aus Ruanda erhält lebenslange Haftstrafe», meldete die BBC. Bizimana war der erste Täter des Genozids, der ausserhalb Ruandas verurteilt wurde. Und noch nie zuvor stand in der Schweiz ein Kriegsverbrecher vor Gericht.
Bizimana gab nicht auf, zog den Entscheid weiter. Schliesslich verhängte das Militärkassationsgericht 14 Jahre Zuchthaus. Neun davon sass der Kriegsverbrecher ab, durfte das Gefängnis 2005 bedingt entlassen – und sollte ausgeschafft werden. Diese Anordnung zog Bizimana bis vor Bundesgericht. Doch dort blitzte er 2006 ab. Im Urteil schrieben die Richter: «Es ist im öffentlichen Interesse zu zeigen, dass die Schweiz kein Zufluchtsort ist für Verbrecher seiner Sorte.»
Deutliche Worte. Denen bis heute, zehn Jahre später, keine Taten folgten: «Eine Ausweisung mit Anordnung von Zwangsmassnahmen ist zurzeit in diesem Fall nicht möglich», sagt Christian Noser (40), stellvertretender Leiter des Migrationsamts Freiburg. Man habe die höchsten Behörden des Landes über den Fall informiert. «Nach der Analyse des Bundes würde eine Ausweisung nach Ruanda gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen.»
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) will sich nicht zum Fall äussern. Sprecherin Léa Wertheimer: «Eine Wegweisung kann nur vollzogen werden, wenn diese zulässig, zumutbar und möglich ist.»
Muss der Verurteilte in der Heimat etwa mit Folter oder einer Todesstrafe rechnen, darf er nicht ausgeschafft werden. «Dieser Grundsatz ist für die Schweiz bindend.»
Auch ein Urteil des Bundesgerichts ändert daran nichts. War dieses also für die Katz? «Nein», sagt Christian Noser. «Herr Bizimana bleibt zu jeder Zeit verpflichtet, die Schweiz zu verlassen.» Er hat keine Aufenthaltsbewilligung, darf keiner Arbeit nachgehen. «Wir prüfen zudem alle sechs Monate, ob sich die Umstände geändert haben und eine Ausweisung nun möglich ist.» Bisher war das nicht der Fall. Inzwischen hoffen die Behörden, dass der Kriegsverbrecher von selbst weiterzieht. «Er hat die Möglichkeit, die Schweiz frei zu verlassen.»
Dazu scheint Bizimana keine Lust zu haben. Frau und Kinder haben eine Zeit lang Sozialhilfe erhalten, wie die Gemeinde bestätigt. Die Frau hat heute einen Job in der Pflege. Die Familie lebt in einem ruhigen Quartier an schöner Lage mit Aussicht auf die Berge.
«Für die Opfer des Genozids in Ruanda kann es schockierend sein, dass ihr ehemaliger Peiniger ein komfortables Leben führt, während sie selber oft in grosser Not leben und nie für ihr Leiden entschädigt wurden», sagt Philip Grant (45). Er ist Direktor der Organisation Trial in Genf, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Kriegsverbrecher ausfindig zu machen, damit sie nicht straffrei davonkommen.
Der Prozess gegen Bizimana sei enorm wichtig gewesen, so Grant: «Frankreich, Deutschland, Kanada und viele andere Länder folgten dem Beispiel der Schweiz und verurteilten in der Folge Beteiligte des Genozids in Ruanda.»
In der Schweiz gab es keinen weiteren Prozess mehr. Dazu Grant: «Man muss sich die Frage stellen, ob der Wille wirklich da ist, Kriegsverbrecher zu bestrafen oder ob das nur leere Versprechen waren.» Wie viele Täter hierzulande Unterschlupf gefunden haben, ist nicht offiziell gesichert. «Unsere Organisation hat über 50 Fälle dokumentiert.»
In der Heimat droht lebenslange Haft
Dr. Josef Alkatout (32), Experte für internationales Strafrecht in Genf, hat den Fall Bizimana in seiner Doktorarbeit behandelt. «Es handelt sich hier um einen absoluten Ausnahmefall», sagt er. «Das Bundesgericht hat endgültig entschieden, dass eine Abschiebung nicht gegen geltendes Recht verstösst.» Dennoch entspreche es der Verhältnismässigkeit, wenn die Migrationsbehörden zu einem anderen Schluss kommen, sofern der Täter in der Heimat um Leib und Leben fürchten muss.
Ist das der Fall? «Die Todesstrafe wurde in Ruanda 2008 abgeschafft, systematisch gefoltert wird nicht mehr», sagt Jurist Dr. Gerd Hankel (58), der den Genozid in Ruanda seit 15 Jahren untersucht. Allerdings drohe Bizimana in der Heimat ein erneuter Prozess: «Die Tutsi, die nun an der Macht sind, würden irgendwelche Gründe finden, um ihn lebenslang hinter Gitter zu sperren.»
Die Bevölkerung habe die Täter nicht vergessen. «Gerade Bürgermeistern von damals wird eine hohe Mitschuld am Genozid angelastet. Bizimana würde auf keinen Fall ohne drastische Strafe davonkommen.»
* Name geändert