Epidemiologe Marcel Tanner berät Bundesrat – und rechnet erst in 15 Monaten mit Impfstoff
«Fussball-Spiele und Konzerte frühestens im Sommer 2021»

Die Normalität in der Schweiz wird erst mit dem Corona-Impfstoff einkehren – frühestens im kommenden Sommer, meint Epidemiologe Marcel Tanner, der den Bundesrat berät. Für lockere Massnahmen wie in Schweden seien die Schweizer nicht bereit.
Publiziert: 24.04.2020 um 10:38 Uhr
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Aktualisiert: 24.04.2020 um 10:47 Uhr
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Solche Szenen auf den Tribünen wären zur Zeit undenkbar.
Foto: PIUS KOLLER

Die erste Lockerung des Corona-Lockdowns kommt am Montag. Eine Hoffnung auf eine vollständige Rückkehr zur Normalität ist das jedoch nicht. «Ein Leben ohne Einschränkungen wird es erst geben, wenn die Herdenimmunität erreicht ist. Ich befürchte, Grossveranstaltungen sind ohne ausreichende Impfung nicht möglich», sagt Epidemiologe Marcel Tanner der «NZZ». Tanner ist Mitglied der Coronavirus-Task-Force, die den Bundesrat berät.

Wann kommt denn der Impfstoff? Tanner zeigt sich realistisch: «Wenn alles sehr gut läuft, also keine Nebenwirkungen auftreten und der Impfstoff im rollenden Verfahren eingeführt wird, haben wir in 15 bis 18 Monaten eine Impfung – und vorher gibt es keine Fussballspiele mit Zuschauermassen und Konzerte.» Das heisst: frühestens im Sommer 2021. Auch Roche-Chef Severin Schwan rechnet nicht vor Ende 2021 damit (BLICK berichtete).

Tanner fordert Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr

Ein weitgehend normales Leben sei dennoch bald möglich, sagt Tanner der Zeitung – unter Einhaltung der Distanz- und Hygieneregeln. Auch das Homeoffice-Regime wird wohl langsam gelockert. Wegen Pendlerströmen im ÖV fordert Tanner deshalb die Maskenpflicht: «Um die Ansteckungsgefahr zu minimieren, plädiere ich dafür, eine Maskenpflicht für den öffentlichen Verkehr einzuführen.»

Die Einhaltung dieser Massnahmen sieht Tanner bis zur Herdenimmunität als unabdingbar. «Klar ist aber, dass es nicht reicht, wenn 60 bis 70 Prozent geimpft sind», sagt er. «Für einen völligen Schutz müssen die Menschen schützende Antikörper entwickeln.» Weil dies aber nicht bei allen Geimpften der Fall sei, müsse die Impfrate voraussichtlich höher liegen. Ein Impfzwang sei in der Schweiz dennoch nicht durchsetzbar.

Lockdown hat Ausbreitungsrate gesenkt

Viele Skeptiker zweifeln an der Wirkung des Lockdowns – die Reproduktionsrate des Virus sei schon davor tief genug gesunken. Diese Kritik schmettert der Experte ab: «Ich bin überzeugt: Ohne den Lockdown hätten wir jetzt nicht die erfreulich tiefe Ausbreitungsrate. Auch bei einer Reproduktionsrate von unter 1 gibt es noch Ansteckungen, erst über längere Zeit führt dies zum Verschwinden der Krankheit. Wer jetzt nur auf die Reproduktionsrate schielt und deshalb die Politik des Bundesrates kritisiert, ist falsch gewickelt.»

Zudem existieren auch lokale Cluster mit viel höherer Übertragungsrate. «Es gibt die bekannten Beispiele aus dem Tessin, aus Verbier VS oder aus Basel, wo Freikirchenmitglieder das Virus aus dem Elsass eingeschleppt haben», so Tanner. Von solchen Clustern aus könne sich das Virus dann rasch auch wieder ausbreiten.

Schweizer zu egoistisch für schwedisches Modell

Lockere Massnahmen wie in Schweden wären in der Schweiz laut Tanner nicht umsetzbar. «Man kann natürlich diskutieren, ob wir nicht auch auf diese Variante hätten setzen sollen. Aber es ist eben auch so, dass wir individualistischer ticken als die Schweden und uns etwas weniger für das Gemeinwohl interessieren», sagt Tanner.

Zudem hätten zu Beginn der Krise einzelne Kantone Zahlenakrobatik betrieben und Anlässe mit vielen Besuchern zugelassen. Auch die Menschenmengen draussen führen Tanner zum Schluss, «dass wir wohl leider nicht bereit waren für den milderen schwedischen Weg, der grosse Eigenverantwortung voraussetzt.»

Das schwedische Modell verteufelt Tanner aber nicht. «Man setzt dort nicht einfach rücksichtslos auf Durchseuchung und Herdenimmunität, wie das Boris Johnson anfänglich in Grossbritannien propagiert hat», vergleicht der Epidemiologe. Die schwedische Regierung vertraue vielmehr stark auf die Einsicht der Bevölkerung.

Sind Treffen bis zu 50 Personen bald wieder möglich?

Wie geht es nach den Lockerungen in der Schweiz jetzt weiter? Mit einer zweiten und dritten Ansteckungswelle sei zu rechnen, so Tanner. «Weil wir aber weiterhin auf Schutzmassnahmen setzen, erwarte ich, dass diese Wellen nicht schlimmer werden als jene, die nun am Abflauen ist», sagt Tanner.

Obwohl Grossveranstaltungen länger untersagt bleiben, wird das Versammlungsverbot laut Tanner wohl mittelfristig aufgehoben: «In einem nächsten Öffnungsschritt könnte man dann Treffen von Gruppen zulassen, die sich gut überblicken lassen. Das wären etwa 30 bis maximal 50 Personen.»

Doch grosse Familienfeste würde Tanner noch nicht planen, da sich die Lage schnell wieder ändern könne. Flexibilität ist gefordert. (szm)

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