Von einem Tag auf den anderen brach das Betreuungsangebot für Behinderte zusammen. Als der Bundesrat am 13. März entschied, die Schulen zu schliessen, mussten auch die meisten Sonderschulen, Heime oder Werkstätten dichtmachen.
Der Alltag von Edith Wangeler (52) und Nicole Greiner (48) wurde plötzlich auf den Kopf gestellt. Die Söhne der beiden brauchen rund um die Uhr Betreuung. Normalerweise wäre Wangelers schwerstbehinderter André (30) tagsüber in einer Tagesstruktur, Greiners geistig behinderter Kevin (23) unter der Woche im Wohnheim. Nun blieben sie zu Hause. Auf unbestimmte Zeit. Für die Mütter bedeutete das: Sie konnten nicht mehr zur Arbeit.
Eigentlich steht Eltern, die wegen der Notstandsmassnahmen nicht mehr arbeiten können, finanzielle Unterstützung durch den Bund zu: Corona-Erwerbsersatz heisst das passenderweise. Doch Eltern wie Edith Wangeler oder Nicole Greiner bekommen nichts.
Der Bundesrat schien vergessen zu haben, dass es Kinder mit Behinderungen gibt. So entscheid er kurz nach dem Lockdown, dass nur Eltern von Kindern unter zwölf Jahren Anspruch auf Erwerbsersatz haben. Ältere Kinder seien selbständig genug, damit deren Eltern arbeiten gehen könnten.
Eine Behinderung hört allerdings nicht mit zwölf Jahren auf, Betroffenenorganisationen liefen Sturm. Der Bundesrat korrigierte daraufhin seinen Entscheid: «Weil diese Altersgrenze Eltern von Kindern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen Schwierigkeiten bereitet, setzt sie der Bundesrat auf 20 Jahre hinauf.»
Doch die Eltern älterer Behinderter wurden ein zweites Mal vergessen. «André braucht denselben Betreuungsaufwand, egal, ob er 20 oder 30 ist», sagt Edith Wangeler. Dasselbe bei Kevin: «Er braucht die gleiche Betreuung mit 23 wie mit 19», so Nicole Greiner.
Erwerbsersatz wäre eine grosse Entlastung
Für beide Mütter bedeutete der Lockdown ohne Erwerbsersatz eine 24-Stunden-Belastung. Greiner ist im Detailhandel angestellt und musste weiterhin zur Arbeit. Sie brachte Kevin notgedrungen zu ihrem Ex-Mann. Der war auf Kurzarbeit gesetzt. Corona-Erwerbsersatz wäre «eine riesige Entlastung gewesen», sagt die 48-Jährige. «Ich hätte unbezahlten Urlaub nehmen und für Kevin da sein können.» Ohne diese Unterstützung konnte sie sich das unmöglich leisten.
Auch Edith Wangeler betreute ihren Sohn rund um die Uhr. «In den ersten sechs Wochen haben wir die Wohnung kaum verlassen», sagt Wangeler. Ihr Sohn habe bis zu sechs Lungenentzündungen pro Jahr und gehöre zur Hochrisikogruppe. Eine Ansteckung mit dem Virus hätte er wohl nicht überlebt. «Ich war ständig angespannt.» Finanziell hatte sie aber Glück. Ihr Arbeitgeber zahlte ihr trotz Arbeitsausfall weiterhin den Lohn.
Dass die Eltern behinderter Erwachsener vom Bund vergessen wurden, sei absolut «unverständlich», findet Michael Ledergerber, Geschäftsleiter des Behindertenverbands Procap Luzern, Ob- und Nidwalden.
Greiner und Wangeler sind keine Einzelfälle. «Mir sind viele Familien bekannt, die sich durch den Corona-bedingten Wegfall der üblichen Betreuungsstrukturen in sehr schwierigen Situationen befinden», sagt Ledergerber. «Diese Menschen haben es verdient, nicht vergessen zu werden.»
Der Geschäftsleiter hat auch einen Sitz im Luzerner Kantonsrat und hat dort ein dringliches Postulat eingereicht, damit der Kanton in die Bresche springt. Ledergerber hofft aber auch auf eine «Signalwirkung für andere Kantone und den Bund».
Bund: «Es würde ungleich komplizierter»
Und wie begründet der Bund seinen Entscheid? «Bei über 20-Jährigen, die normalerweise extern betreut werden, würde die Umsetzung eines CoronaErwerbsersatzes im Vergleich zu den unter 20-Jährigen ungleich komplizierter», teilt das zuständige Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf Anfrage von SonntagsBlick mit.
So hätten die Ausgleichskassen in ihren Systemen keine oder zumindest keine genügenden Angaben, auf die solche Zahlungen abgestützt werden könnten.
«Um Missbräuche zu verhindern, müsste in jedem Einzelfall eine aufwendige Abklärung der individuellen Situation vorgenommen werden. Dafür haben die Ausgleichskassen keine Ressourcen und auch nicht das notwendige Fachwissen», lässt das BSV wissen.
«Diese Argumentation ist äusserst unverständlich», sagt Michael Ledergerber. «In jedem Kanton sind alle Menschen bekannt, die in einer Institution leben oder eine Tagesstruktur besuchen.»
Es wäre sehr einfach, von der zuständigen Behörde eine Bestätigung zu verlangen, dass die Institution vorübergehend geschlossen wurde. «Ich sehe hier kein Mehraufwand wegen zusätzlicher Abklärungen.»
Das BSV verweist unter anderem auf die hohe Arbeitsbelastung der Ausgleichskassen hin: «Es sei daran erinnert, dass die Ausgleichskassen innert eines guten Monats an über 124'000 Personen Corona-Erwerbsersatz ausbezahlt haben.» Die AHV-Ausgleichskassen müssten diese Aufgabe zusätzlich zu ihrem normalen Geschäft bewältigen, ohne zusätzliche Personalressourcen und trotz der betrieblichen Restriktionen wegen der Corona-Krise.
Für die Behörden scheint der Aufwand also schlicht zu gross gewesen zu sein.
Dennoch hofft Nicole Greiner weiterhin auf Corona-Erwerbsersatz. Ihr Sohn Kevin könne erst Mitte August in das Wohnheim zurück. Bis dahin hetzt seine Mutter weiterhin pausenlos zwischen Arbeit und Betreuung hin und her.