In der Schweiz breitet sich das Coronavirus aus. Rasanter denn je.Täglich vermeldet das BAG neue Höchst-, oft sogar Rekordwerte. Statt fünf vor zwölf ist es plötzlich fünf nach zwölf. In nicht viel mehr als einer Woche hat sich die Lage komplett verändert. Erst am vorigen Sonntag trat der Bundesrat notfallmässig zusammen. In Pandemiezeiten ist das schon eine Ewigkeit her. Denn das Land wird langsam fiebrig. Und die restliche Welt schaut und staunt über diesen Ausbruch.
Wut und Frustration, Bangen und Hoffen wechseln einander ab. Strassen und Beizen leeren sich. Es geht wieder von vorn los. Zeit für SonntagsBlick, der Schweiz den Puls zu fühlen.
Beten im Kloster, Masken in der Schule
Die Mauern des Klosters Einsiedeln wirken unverrückbar. Sie haben schon viel überstanden: Wunder, Revolutionen und die Pest. Nun naht die neuste Seuche. Befeuert durch ein Jodelfest, kocht die Corona-Pandemie im Kanton Schwyz besonders hoch.
«Besuchen Sie das Kloster Einsiedeln jetzt nicht, weil wir trotz Maskenpflicht und Schutzkonzept für nichts garantieren können», warnt Urban Federer (52), Vorsteher der Abtei, in der 46 Benediktiner leben. Der Abt rechnet damit, dass auch einer von ihnen sich früher oder später mit dem Virus anstecken wird.
Wie der Veranstaltungskalender des Landes leert sich zusehends auch seine Agenda. Viele seien in dieser Lage sehr angespannt. Auch er erlebe eine aggressive Grundstimmung, nicht im Kloster, aber draussen. An diesem Mittwoch beten nur wenige Gläubige vor der Schwarzen Madonna. Sonst pilgern jährlich Hunderttausende zum grössten Wallfahrtsort der Schweiz.
Ob die Pandemie eine Strafe Gottes sei, habe bisher noch kein Besucher wissen wollen, so der Geistliche. Andere Fragen seien wichtiger: «Wie Mönche den Alltag strukturieren, wie ein dauerhafter Lockdown funktioniert, wie wir mit dem Tod umgehen.»
Auf den Flächenbrand im Kanton reagiert die Schwyzer Regierung mit einer Maskenpflicht an allen Schulen. «Ich war von der Massnahme nicht überrascht», sagt Marc Dahinden (45). Vorsorglich hatte der Rektor der Bezirksschulen Küssnacht am Rigi bereits Masken eingelagert. Vergangene Woche gab es an seiner Schule zwei positiv Getestete. «Die zwei betroffenen Klassen mussten in Quarantäne. Und wir haben umgehend auf Fernunterricht umgestellt», sagt Dahinden. Viele Kinder erkennen nun, dass die Quarantäne keine Freizeit sei, sondern eben sehr einschränkend, ergänzt Schulleiterin Rita Gamma (55).
Kevin (13) aus der Real 1B findet «die ganze Situation mit den Masken anstrengend. Manche Schüler fürchten sich auch etwas vor dem Virus». Und Klassenkamerad Diego(12) sagt: «Wir haben gelernt, vorsichtig zu sein.» Vivien (13) befürchtet: «Wir werden Weihnachten wohl leider nicht mit Grosi feiern.»
Lucas Rühle (29) hört ihnen aufmerksam zu. Der Klassenlehrer findet Fernunterricht sehr unschön, «weil halt einfach der Kontakt zu den Schülern fehlt», wie er sagt. Ausgerechnet heute ist sein erster Tag nach überstandener Krankheit. Er hatte Corona.
Frustrierte Jugendliche, besorgte Eltern
Am Mittwoch publiziert der Bund die neusten Zahlen. Über 5000 Neuinfektionen innert 24 Stunden. Ein neuer Rekord. Die Jugend ist frustriert. Luca (20), Marcella und Leandro (beide 18) fühlen sich als Gefangene im eigenen Land. Sie treffen sich an der Zürcher Seepromenade – und reden.
Luca: «Ich habe meine Lehrstelle wegen Corona verloren. Maler im zweiten Lehrjahr. Jetzt suche ich was Neues. Verdammt schwierig!»
Leandro: «Bei mir ist es fast gleich. Ich hab im Sommer meine Lehre als Unterhaltspraktiker abgeschlossen und finde auch nichts.
Marcella: «Mann eh, ich hoffe, ich finde schnell was, wenn ich fertig bin. Noch bin ich in der Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit. Mir gehts eigentlich ganz gut. Nur die Masken nerven ziemlich.»
Luca: «Genau. Was mich aber noch mehr nervt, ist, wenn alte Menschen, in der Stadt oder so, manchmal gar keine Masken tragen. Die sollen sich doch besser schützen. Nicht wir!»
Leandro: «Die Alten motzen, stauchen dich zusammen und machen es dann auch nicht besser.»
Marcella: «Wir können nichts dafür, dass das Virus vor allem für Ältere gefährlich ist. An meinem 18. Geburtstag hockte ich allein zu Hause. War echt toll!»
Später am Tag wird auch der Kanton Zürich Zahlen zur Pandemie veröffentlichen: Fast 1000 Neuinfektionen in den letzten 24Stunden.
«Eine verrückte Zeit», sagt Raffaela Diener (31) beim Znacht in Zürich-Wipkingen. Die Kindergärtnerin und Mutter ist überzeugt: Die Pandemie hat das Verhalten der Kleinsten verändert. «Sie spielen nun Maskentragen und basteln sich sogar selber welche.»
Auch bei ihrer Tochter Laura (4) stellt sie fest, wie bedacht sie darauf sei, Abstand zu halten. «Noch können wir nicht abschätzen, was die fehlende Nähe, die fehlende Mimik mit den Kindern macht», sagt Diener.
Ihr Partner Sandro Mazzola (33) ergänzt: «Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Pandemie ähnlich prägend ist wie Kriege oder andere grossen Krisen.» Die Angst der Gesellschaft vor dem Virus übertrage sich auf die Kinder. «Und wir Eltern haben Schwierigkeiten, den Kindern diese abstrakte Bedrohung nüchtern zu erklären», sagt der Vater.
Wintersaison im Eimer, Zermatt wartet
Donnerstag, der erste Tag des Walliser Teil-Lockdowns, nachdem die Infektionszahlen im Kanton stiegen und stiegen. Bereits mehr als 1000 Fälle auf 100'000 Einwohner! Und ganz Zermatt wartet. Es weiss nur keiner, worauf. Auf die Touristen, den ersten Schnee, die zweite Welle?
Beim Bahnhof schielen die Chauffeure der Elektromobile auf ein paar wenige Ankömmlinge, beim Kirchplatz bessern Handwerker Steinfugen aus. Die träge Zwischensaison soll bald in die rege Wintersaison wechseln. Aber was ist, wenn vielleicht gar keine Saison stattfinden wird?
«Es ist so schlimm wie noch nie», sagt Maxime Riviera, Skilehrer und Inhaber der Alpine Ski School in Zermatt. Normalerweise sind bei ihm zum jetzigen Zeitpunkt bereits 100 Reservierungen für den Winter eingegangen. Dieses Jahr meldete sich ein einziger Kunde.
«Die Saison ist im Eimer, bevor sie überhaupt anfing», klagt Riviera, der sein 15. Jahr als Skilehrer antritt. Vielleicht sein letztes. «Ich orientiere mich um, Sportlehrer an einer Schule wäre etwas für mich», sagt er. Und schultert seine Ski, für heute geht es hoch auf den Gletscher. Ohne Kunden, dafür mit Maske.
Senioren sind schon wieder eingesperrt
Nun kommt eine Massnahme wieder, die bereits im Frühjahr Familien getrennt hat und auch diesen Winter einschneidend sein wird: Das Besuchsverbot für Alters- und Pflegeheime. Bereits zum Wochenanfang preschte das Wallis vor, andere Kantone wie Bern, Jura und Luzern zogen mit Einschränkungen nach.
«Knall auf Fall», sei die neue Massnahme gekommen, sagen Heimleiter Marcel Bellwald und Pflegedienstleiterin Rosemarie Steffen. Ab sofort bleibt ihr Altersheim St. Mauritius in Zermatt geschlossen. Die meisten Heimbewohner hätten darauf gefasst reagiert, sagen Bellwald und Steffen. So, wie sie es sagen, ist herauszuspüren, wie weh das tat.
Nun kommt wieder die Besucherbox zum Einsatz, ein Container mit Baracken-Feeling. An ein Fenster des Heims gestellt und mit einer Telefonleitung verbunden, wird die Box für die Alten die einzige Schleuse zur Aussenwelt.
Vor einem langen und dunklen Winter
Es dürfte ein langer und dunkler Winter werden. Auch für Herbert Zimmermann. Es sei sehr schwierig, so abgeschottet zu leben, sagt der 93-Jährige, der im Altersheim Herosé in Aarau lebt. Besuche dürfe er nur noch von seiner Familie empfangen. Doch sie würden rarer. Anlässen ausserhalb des Altersheim bleibt der Rentner ohnehin fern.
«Am Sonntag feiert meine ganze Familie den 22.Geburtstag des Enkelsohns. Leider ohne mich. Es wäre zu gefährlich», sagt Zimmermann. Die Angst, sich anzustecken, sei sein ständiger Begleiter. «Das schlägt aufs Gemüt.» So etwas hat dieser tapfere Mann in seinem langen Leben noch nicht erlebt.
Deutschland hat die Schweiz derweil zum Corona-Risikogebiet erklärt.
Donnerstagabend in Luzern. Ein Grüppchen Obdachloser wartet vor der Notschlafstelle auf Einlass. Im Tröpfchensystem lässt Leiter Urs Schwab (49) «seine Gäste» in die warme Stube. Maske auf, Hände desinfizieren, Fiebermessen. Das wichtigste sei, das Personal zu schützen. «Sonst kann ich den Laden dichtmachen.»
Infektionskrankheiten, so Schwab, sind bei Obdachlosen der Normalfall. «Hepatitis, HIV, Aids, Tuberkulose. Wir wissen, wie wir uns verhalten und schützen müssen», sagt er. «Das Virus ist für uns eine Krankheit unter vielen.» Was sich verändert hat: Die Obdachlosen haben weniger Geld in der Tasche. «Sehen sie sich in der Stadt um! Alle bleiben zu Hause, niemand geht aus, da lohnt sich selbst das Betteln nicht mehr.»
Ab Freitag überschlagen sich die Meldungen aus verschiedenen Kantonen: Besuchsverbot in Spitälern. Sperrstunden in Beizen. Immer mehr Corona-Tote.
Nicht ins Stadion, nicht in die Kneipe
Der Kanton Bern verbietet Veranstaltungen von mehr als 15 Personen und verfügt eine Beizen-Sperrstunde. Museen, Kinos sowie Sport- und Fitnesscenter müssen schliessen – ebenso Bars und Clubs. «Heute um Mitternacht ist Schluss», sagt Sandeep Chaudhry (58), der seit 17 Jahren das Nelson in der Berner Innenstadt betreibt.
Über die Bildschirme flimmert der Hockey-Match SCB – Biel. Fans, die nicht ins Stadion dürfen, kommen auch nicht mehr in die Bars. «Eigentlich sollte der Laden jetzt voll sein», sagt Chaudhry. «Aber schauen Sie sich um!»
Silvain (27) und Eric (28), Kumpels aus Kindheitstagen, unterhalten sich bei Guinness über das Virus. «Dass die Bars und Clubs schliessen müssen, ist uns eigentlich egal», sagt Silvain. «Trinken wir eben zu Hause», fügt Eric an. Sie leeren das Bier, verabschieden sich und gehen in die regnerische Nacht.
Es ist Wochenende. Und das Land wartet. Auf die Kantone, die täglich neue Massnahmen beschliessen. Auf den Bundesrat, der erst am Mittwoch entscheiden will, was Sache ist. Und während in Bern die Lauben dichtgemacht werden, gehen die Zürcher weiter an Food-Festivals, Konzerte, Partys. Nur: wie lange noch?