Viele Corona-Massnahmen könnten nächste Woche aufgehoben werden; die Pandemie ist gefühlt schon fast vorbei. Doch die Krise hat vieles verändert. Was bedeutet dies für die Politik? Das wollte SonntagsBlick von Politologe Lukas Golder wissen.
Wird die Pandemie die Schweizer Politik dauerhaft verändern – oder kehren wir bald zur «alten Normalität» zurück?
Lukas Golder: Ich glaube schon, dass die Corona-Krise Spuren hinterlässt. Wie selten zuvor hat die Pandemie die Rolle der Politik deutlich gemacht – und zu einer Politisierung geführt, wie es sie in der Schweiz seit der Einführung des Frauenstimmrechts noch nie gegeben hat: Die durchschnittliche Stimmbeteiligung belief sich im Jahr 2021 auf rekordhohe 57,2 Prozent. Zum Vergleich: Zwischen 2011 und 2020 lag die Beteiligung im Schnitt bei 45,8 Prozent.
Ist die hohe Mobilisierung nicht auch damit zu erklären, dass das Covid-Gesetz und die Agrarinitiativen stark polarisiert haben?
Das war aussergewöhnlich. Aber selbst eine Stimmbeteiligung, die um ein paar Prozentpunkte höher ist als vor der Pandemie, kann den Ausgang von Abstimmungen entscheidend beeinflussen.
Die Gegner der Corona-Massnahmen kommen aus unterschiedlichen Lagern, von grün bis rechtskonservativ. Heben sich diese Stimmen nicht gegenseitig auf?
Die Stossrichtung der Bewegung war eindeutig behördenkritisch. Aus Nachbefragungen wissen wir zudem, dass sich die Gegner des Covid-Gesetzes bei der Abstimmung im November viel stärker über soziale Medien wie Youtube oder Telegram informierten. Das erinnert an den «Trumpism» in den USA: Je nachdem, welchem Lager man angehört, lebt man in ganz unterschiedlichen Medienwirklichkeiten. Zudem stellen wir fest, dass die Medien – vor allem die sozialen Medien – Teil der Radikalisierung und Emotionalisierung sind.
Welche politischen Folgen hat das?
Wenn mehr behördenkritische Bürger abstimmen, haben Referenden bessere Chancen. Das sieht man aktuell beim Mediengesetz oder der Stempelsteuer. Damit steigen die Chancen für politische Blockaden. Im Moment haben Referenden eine Erfolgsquote von 35 Prozent.
Dann drohen künftig mehr Vorlagen durchzufallen, auf die sich Bundesrat und Parlament geeinigt haben – oft nach Jahren des Verhandelns?
Ja. Und das ist ein Klima, das die Schweiz mit ihrer direkten Demokratie nicht gut aushält.
Lukas Golder (47) ist Politik- und Medienwissenschaftler und Co-Leiter des Forschungsinstituts
GFS Bern. Dieses führt unter anderem die Nachbefragungen nach Abstimmungen durch, die sogenannte Vox-Analyse. Golder lebt mit seiner Partnerin in Feldbrunnen SO.
Lukas Golder (47) ist Politik- und Medienwissenschaftler und Co-Leiter des Forschungsinstituts
GFS Bern. Dieses führt unter anderem die Nachbefragungen nach Abstimmungen durch, die sogenannte Vox-Analyse. Golder lebt mit seiner Partnerin in Feldbrunnen SO.
Wie meinen Sie das?
Wenn ein Drittel der Stimmbürger eine riesige Distanz hat zu dem, was in Bundesbern passiert, ist das enorm belastend. Ich sehe die Gefahr einer Polarisierung, in der gewisse Kreise das politische System fundamental herausfordern.
Allerdings zeigen manche Gruppen von Massnahmengegnern bereits erste Zerfallserscheinungen – wie etwa die «Freunde der Verfassung».
Das ist so. Dennoch wäre es naiv zu glauben, dass eine Kraft, die scheinbar aus dem Stand heraus ein Referendum zustande bringt, von einem Tag auf den anderen verschwindet. Der Trumpismus – also parallele Wirklichkeiten, Wissenschaftsskepsis und eine Emotionalisierung und Ideologisierung der Medien – wird bleiben.
Gleichzeitig haben in den letzten zwei Jahren linke Anliegen wie die Konzernverantwortungs- oder die Pflege-Initiative Mehrheiten im Volk gefunden – was früher undenkbar gewesen wäre.
Auch das ist eine tektonische Verschiebung, zumal mit dem Tabakwerbeverbot heute vermutlich bereits die zweite links-grüne Initiative innerhalb von zwei Jahren angenommen wird; mit der Konzernverantwortungs-Initiative hat eine weitere das Volksmehr erreicht. Überhaupt scheint die Gesundheitspolitik ein Bereich zu ein, in dem Initiativen von links seit neustem Mehrheiten finden. Ich kann mir vorstellen, dass aus diesem Lager noch einiges kommen wird.
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