Ehemalige Mafia-Staatsanwältin Rosa Cappa
«Die Lage in der Schweiz ist sehr ernst»

Die italienische Mafia unterwandert die Schweiz. Auch weil die Bundesanwaltschaft lange zuschaute. Das sagt Rosa Cappa (54). Als Bundesstaatsanwältin ging sie Mafia-Fällen nach – und sagt uns, was sie über das Verbrechernetzwerk hierzulande weiss.
Publiziert: 08.01.2022 um 20:21 Uhr
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Aktualisiert: 10.01.2022 um 08:49 Uhr
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Rosa Cappa war von 2003 bis 2015 Bundesstaatsanwältin.
Foto: zvg
Rebecca Wyss

Im November verhafteten Carabinieri in Italien über 100 'Ndrangheta-Leute. Auch bei uns knallte es: In Graubünden, Zürich, St. Gallen und im Tessin nahmen die Polizisten sechs Verdächtige fest. Es zeigte sich: Die Mafiosi nutzten die Schweiz als Rückzugsort und Umschlagplatz für Drogen- und Waffengeschäfte. Die ehemalige Bundesanwältin Rosa Cappa überrascht das nicht.

Frau Cappa, lange gehörte es zu Ihrem Job, die Spuren der Mafia zu lesen. Sehen Sie diese heute noch in Ihrem Alltag?
Rosa Cappa: Ja. Ich bin manchmal misstrauisch und schaue mir gerne mal eine Firma im Handelsregister an.

Was macht Sie misstrauisch?
Wenn ich erfahre, dass Leute aus Italien Geschäfte aufkaufen und die riesige Summe in bar bezahlen. Oder wenn eine schäbige Autogarage in einem kleinen Dorf nahe Lugano Lamborghinis verkauft. Dort will doch keiner mit Geld ein so teures Auto kaufen. Und ich sehe immer wieder, wie italienische Firmen Immobilien erwerben und nichts damit anstellen.

Sie jagte die Mafia

Rosa Cappa (54) wuchs in Abruzzo auf, an der adriatischen Küste Italiens. 2002 kam sie in die Schweiz, bald darauf war sie Staatsanwältin bei der Bundesanwaltschaft. Kümmerte sich um Mafia-Fälle und arbeitete mit italienischen Antimafia-Staatsanwaltschaften zusammen. Bis 2015, danach wechselte sie in die Privatwirtschaft, als Partnerin in einer Tessiner Anwaltskanzlei. Heute kümmert sie sich um Fälle der Finanzkriminalität, Korruption und internationalen Geldwäscherei. Cappa gehörte viele Jahre lang zu jenen, die einen viel engagierteren Kampf gegen die Mafia forderten – erfolglos. Rosa Cappa lebt in Lugano TI.

Rosa Cappa (54) wuchs in Abruzzo auf, an der adriatischen Küste Italiens. 2002 kam sie in die Schweiz, bald darauf war sie Staatsanwältin bei der Bundesanwaltschaft. Kümmerte sich um Mafia-Fälle und arbeitete mit italienischen Antimafia-Staatsanwaltschaften zusammen. Bis 2015, danach wechselte sie in die Privatwirtschaft, als Partnerin in einer Tessiner Anwaltskanzlei. Heute kümmert sie sich um Fälle der Finanzkriminalität, Korruption und internationalen Geldwäscherei. Cappa gehörte viele Jahre lang zu jenen, die einen viel engagierteren Kampf gegen die Mafia forderten – erfolglos. Rosa Cappa lebt in Lugano TI.

Wie stark ist die Mafia in der Schweiz?
Die Lage in der Schweiz ist sehr ernst. Vor dreissig Jahren brachte die Mafia nur ihr Geld zu uns auf ihre Bankkonten. Heute leben ihre Leute unter uns. Sie haben sich eingenistet.

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Und wie gehen sie bei uns vor?
Die Mafiosi leben mit ihren Familien hier. Sie infiltrieren die Wirtschaft mit Investitionen in Restaurants, Hotels, Immobilien, Unternehmen. Über diese waschen sie Geld. Oft bleibt der alte Besitzer im Unternehmen, muss aber ihre Leute aus Italien anheuern.

Thurgau, Wallis, Aargau, Graubünden – warum lassen sie sich in Randregionen nieder?
In kleinen Dörfern können sie sich besser integrieren als in einer Stadt. Sicherlich sind sie auch in Zürich aktiv, weil man sie immer dort findet, wo das Geld ist. Aber leben, in die Kirche gehen, in Vereinen aktiv sein, das tun sie im Dorf.

Sie sprechen die Kirche an. Wie wichtig ist diese heute noch für die Mafia?
Sehr wichtig. Über die Kirche bilden sie Netzwerke. Nach der Operation «Imponimento», bei der man den Anello-Fruci-Clan im Aargau erwischte, gingen Journalisten nach Muri und fragten den Priester, was er über die Familie wisse. Dieser sagte: Sie seien gute Leute, kämen immer in die Kirche, aber es sei besser, wenn man ihm nicht mehr Fragen stelle. Er hatte offenbar Angst.

Wofür nutzen sie das Netzwerk?
Über die Kirche kommen sie in Kontakt mit der Bevölkerung, können mit ganz normalen Leuten ins Geschäft kommen. Und erfahren so jetzt in der Krisenzeit, wer wo was verkaufen will – und kaufen. Wenn zum Beispiel derzeit Kleinunternehmer Geldprobleme haben, lassen sie sich mit Mafiosi ein, ohne es zu wissen. Anders als dies Banken tun, überprüfen sie die Käufer nicht.

Mit wie vielen von ihnen haben wir es in der Schweiz zu tun?
Anlässlich der Operation «Imponimento» sagte der bekannte italienische Staatsanwalt Nicola Gratteri, es gebe ungefähr 20 Mafia-Zellen in der Schweiz.

Zu welchen Mafia-Organisationen gehören diese?
Die 'Ndrangheta ist am meisten verbreitet, wegen der Nähe zur Lombardei, wo sie sehr aktiv ist. Gleich neben dem Tessin, in Varese oder Como, wimmelt es nur so von Mafiosi. Sie müssen mich unterbrechen, wenn ich zu viel rede, ich kann sehr leidenschaftlich sein!

Nein, nein, fahren Sie bitte fort! Wie läuft das ab – wie wird man Mitglied in einem Clan?
Viele sind hineingeboren. Die Kinder und Jugendlichen werden zur blinden Loyalität gegenüber der Familie erzogen. Andere werden aus italienischen Dörfern rekrutiert.

Kann man aussteigen, ohne um sein Leben fürchten zu müssen?
Kaum. Taucht jemand unter, suchen sie nach ihm. Für das Netzwerk steht viel auf dem Spiel. Deshalb erfolgt der Einstieg stufenweise, man verdient sich das Vertrauen der Bosse. Man erledigt in deren Auftrag kriminelle Geschäfte, beweist seine Treue. Schritt für Schritt.

Das klingt sektiererisch.
Es gibt religiöse Aspekte. Durch die kriminellen Taten und religiöse Rituale stärken die Clans die Identifikation mit der Gruppe. Man macht sich gemeinsam die Finger dreckig. Man teilt ein Geheimnis. Plötzlich hat man viel zu verlieren und kommt nicht mehr raus.

Und warum bekommen wir alle kaum etwas von diesem Treiben mit?
In der Schweiz will die Mafia keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Anders als in Italien gibt es keine Toten auf offener Strasse. Jedenfalls keine offensichtlichen.

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Also gibt es sie doch?
Es gab einige Morde in der Schweiz, die die Polizei als Suizide registrierte. In den Nullerjahren fand man einen jungen Mann in Lamone nahe Lugano erschossen, auf seiner Brust lag eine Waffe. Nahe Basel wurden vor Jahren drei 'Ndrangheta-Mitglieder umgebracht, das galt lange als Beziehungsdelikt. In Lugano fand man 2011 einen erhängten Anwalt. Auch da hiess es sofort: Suizid. Die Mutter des Mannes, die in Italien lebt, forderte dann eine Autopsie. Diese ergab, dass seine Zähne gebrochen waren und einige Organe fehlten.

Was hatte das zu bedeuten?
Eine Botschaft für die Leute, die diese Art von Botschaft verstehen. Die Bundesanwaltschaft verstand sie nicht.

Der ehemalige Bundesanwalt Michael Lauber sagte 2014, die Schweiz sei kein mafiöses Land. Was halten Sie davon?
Das ist symptomatisch. Die Schweiz hat die Mafia kaum bekämpft. Sie leistete meist nur Rechtshilfe für Italien, wurde selber kaum aktiv. Der Boss eines 'Ndrangheta-Clans, Leo Caridi, lebte unbehelligt in Visp VS. Dann stellten die italienischen Behörden ein Auslieferungsgesuch, die Schweiz kam dem 2016 nach. Es ist bequem, einen Kriminellen auszuschaffen und so zu tun, als wäre damit das Problem gelöst.

Warum hatte Lauber die Mafia nicht im Visier?
Herr Lauber unterschätzte das Mafia-Problem. Er kannte es nicht einmal. Er hatte eine Finanzexpertise, kam von der Finanzmarktaufsicht in Liechtenstein. Das war seine Komfortzone. Jetzt ist es einfach, auf ihn zu zeigen. Aber er war ja nicht alleine.

Wie war es für Sie damals, dass sich intern niemand dafür interessierte?
Schwierig. Die Italiener zeigten uns durch ihre Kooperationsanfragen, wie die Mafia in der Schweiz operiert. Wir sahen sie! Aber wir mussten zuschauen. Der Bundesanwalt wollte nur Verfahren, die Aussicht auf Erfolg hatten. In Italien gehen die Staatsanwälte mit zehn Fällen vor Gericht und nehmen in Kauf, dass sie sechs verlieren.

Was denken Sie: Ging es der Bundesanwaltschaft ums Image?
Ganz sicher. Sie stand unter Druck.

Was bedeutete das konkret für Ihre Arbeit?
Wir mussten Ermittlungen aufgeben. Wir hatten oft auch zu wenig Polizisten, die eine Ermittlung hätten durchführen können. Bei Geldwäscherei ist es einfacher, man hat Firmen, deren Konten und Dokumente, da ist alles einsehbar. Mafia-Untersuchungen brauchen Zeit. Man muss Verdächtige und ihr Umfeld in ihrem Alltag observieren. Eine Schwierigkeit ergibt sich auch aus dem Föderalismus.

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Inwiefern?
Die kantonalen Polizeikorps, die geografisch am nächsten an den Mafia-Zellen dran sind, haben kaum Ressourcen und Kompetenzen. Die Mafia ist Sache des Bundes, doch der fokussiert vor allem auf Wirtschaftsdelikte. Der einzige Staatsanwalt der Bundesanwaltschaft, der sich mit der Mafia befasst, sitzt weit weg vom Geschehen in Bern. Das verstehe ich nicht.

Vielleicht geht nun etwas mit dem neuen Bundesanwalt Stefan Blättler, der die Mafia-Bekämpfung offenbar auf dem Zettel hat. Was braucht es, um die Mafiosi wieder loszuwerden?
Die Schweiz müsste ihren Ermittlungsansatz ändern: Es braucht spezialisierte Polizeieinheiten. Und es braucht Gesetze, die es erlauben, Mafia-Vermögen zu beschlagnahmen. Unabhängig davon, ob ein Mafioso bereits verurteilt ist. Deshalb gefällt es ihnen so in der Schweiz: In Italien müssen sie um ihr Vermögen fürchten, hierzulande nicht. Ausserdem muss es möglich sein, auch die Gelder der Verwandten und Geschäftspartner eines Mafioso zu konfiszieren.

So wütet die Mafia in der Schweiz

Der erste Mafia-Fall in der Schweiz kam Mitte der 80er in Lugano TI vor Gericht, jener zur «Pizza Connection». In den USA erwischte das FBI die Mafia-Organisation Cosa Nostra, die Unsummen von Heroin über Pizzerien an der Ostküste verkaufte. Das Geld wurde in der Schweiz gewaschen. 2014 zerschlug die Polizei nahe Frauenfeld TG eine Zelle der 'Ndrangheta-Organisation. 2016 nahm man in Visp VS den 'Ndrangheta-Boss Leo Caridi fest und schaffte ihn nach Italien aus. 2020 dann die Operation «Imponimento»: Bei Razzien gegen die 'Ndrangheta verhaftete man in Italien und der Schweiz 75 Verdächtige. Im Aargau nahm man eine Person fest – eine Pizzeria in Muri AG fungierte als unscheinbare Mafia-Drehscheibe. Im November 2021 schlugen Italien und die Schweiz wieder zu: In Graubünden, Zürich, St. Gallen und im Tessin kam es zu sechs Verhaftungen.

Der erste Mafia-Fall in der Schweiz kam Mitte der 80er in Lugano TI vor Gericht, jener zur «Pizza Connection». In den USA erwischte das FBI die Mafia-Organisation Cosa Nostra, die Unsummen von Heroin über Pizzerien an der Ostküste verkaufte. Das Geld wurde in der Schweiz gewaschen. 2014 zerschlug die Polizei nahe Frauenfeld TG eine Zelle der 'Ndrangheta-Organisation. 2016 nahm man in Visp VS den 'Ndrangheta-Boss Leo Caridi fest und schaffte ihn nach Italien aus. 2020 dann die Operation «Imponimento»: Bei Razzien gegen die 'Ndrangheta verhaftete man in Italien und der Schweiz 75 Verdächtige. Im Aargau nahm man eine Person fest – eine Pizzeria in Muri AG fungierte als unscheinbare Mafia-Drehscheibe. Im November 2021 schlugen Italien und die Schweiz wieder zu: In Graubünden, Zürich, St. Gallen und im Tessin kam es zu sechs Verhaftungen.

Eine heikle Forderung.
Man muss sehen: Für einen Boss, den man nach Italien ausschafft, kommen drei oder vier Verwandte nach, die hier die Geschäfte weiterführen.

Die Fedpol-Chefin Nicoletta della Valle sagte in einem Interview mit CH Media, dass es einen besseren Informationsaustausch brauche.
Zuerst muss man Behörden wie Handelsregisterämter, Steuerämter und Konkursämter im Kampf gegen die Mafia schulen. Dann braucht es einen automatischen Informationsfluss zwischen all diesen Behörden und der Polizei. Heute dürfen sie nicht von sich aus Meldung machen, die Polizei muss anfragen. Es braucht eine polizeiliche Mafia-Datenbank.

Sie arbeiten mittlerweile als Anwältin in einer Kanzlei. Warum lässt Sie das Thema nicht los?
Ich bin in eine Anti-Mafia-Kultur hineingewachsen. Schon als junge Frau in Italien las ich viele Bücher darüber. Wohl auch, weil ich einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn habe. Der liegt in der Familie. Bei uns sind alle entweder Rechtsanwälte oder Staatsanwälte. Diese Prägung brachte ich mit in die Schweiz.

Hier waren Ihnen aber die Hände gebunden.
Doch in der Schweiz hatte ich die Möglichkeit, mit berühmten italienischen Mafia-Staatsanwälten zusammenzuarbeiten. Ich traf meine Idole! Giuseppe Pignatone, er jagte erst jahrzehntelang in Palermo, dann in Kalabrien und Rom Mafiosi. Oder Pietro Grasso, der die nationale Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft leitete.

Sie zählen lauter Männer auf. Wie fühlten Sie sich in dieser Männerdomäne?
Sehr gut.

Sind Sie nie unterschätzt worden?
Ich sage Ihnen jetzt etwas. Vor Jahren nahm ich an einer Anti-Mafia-Operation in Brasilien teil. Als einzige Frau. Im Briefing vor der Operation sagten sie zu mir: Warte im Hotel auf uns, bis wir fertig sind. Ich machte ihnen klar, dass ich dafür doch nicht Tausende Kilometer weit geflogen bin. Ich machte bei der Einvernahme eines Mafioso mit. Danach nannten sie mich «die Jägerin».

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