Edith Eva Eger (91) hat Auschwitz überlebt
«In jedem von uns steckt ein Hitler»

Edith Eva Eger war 16, als sie nach Auschwitz deportiert wurde. Heute hilft sie als Psychologin anderen Menschen – für Hass hat sie keine Zeit.
Publiziert: 11.05.2019 um 23:56 Uhr
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Die amerikanische Psychologin Dr. Edith Eva Eger (91) hat einen unbändigen Charme.
Foto: Philippe Rossier
Dana Liechti

Mit grazilen Schritten tritt die alte Dame aus dem Gebäude der Lausanner Wirtschaftshochschule, lächelt und umarmt eine junge Frau, die sich ihr vorstellt. Wäre Lebensfreude eine Person, stünde sie jetzt hier im geblümten Blazer zwischen marmorierten Treppen und hohen Glasfenstern.

Die amerikanische Psychologin Edith Eva Eger hat einen unbändigen Charme. Mit einem Blitzen in ihren hellblauen Augen schwingt die 91-Jährige ein Bein in die Luft. Es ist ihre Art zu ­zeigen, dass sie überlebt hat.

1944, in einer Baracke auf dem Gelände des Konzentrations­lagers Auschwitz: Edith Eva,
16 Jahre alt, kahl geschoren, dreht vor den Augen des KZ-Arztes Josef Mengele Pirouetten, wirft ihr Bein in die Luft. «Ich tanze in der Hölle», wird sie sich später in ihrer Biografie erinnern. Nur wenige Stunden zuvor hat Mengele ihre Mutter in den Tod in der Gaskammer geschickt. Die junge Ballerina tanzt um ihr Leben, sie hat Angst.

Noch während sie im Staub wirbelt, wird ihr aber auch bewusst, dass der Mörder ihrer Mutter viel bemitleidenswerter ist als sie selbst: «Ich bin frei im Geist, und das wird er nie sein können. Er wird immer damit ­leben müssen, was er getan hat. Er ist mehr Gefangener als ich.»

Sie glaubt an das Gute

Dass sie unsagbares Leid erlebt hat, merkt man Edith Eva Eger heute nicht mehr an. Im Gegenteil. Sie reist um die Welt, um Liebe zu lehren. Denn sie glaubt immer noch an das Gute im Menschen. Und erzählt sie in Lausanne von ihrer Geschichte, die schlanken Finger vorsichtig übereinandergelegt, tut sie es ohne Hass. «Würde ich hassen, wäre ich noch immer eine Gefangene», sagt sie.

Die Jüdin Edith Eva wächst in Ungarn auf, tanzt Ballett und turnt, soll an den Olympischen Spielen teilnehmen. Sie erlebt zwar die ersten Ängste des Krieges, aber auch ihre erste Liebe. Sie hat grosse Träume. Doch mit dem Einmarsch der Nazis beginnt ihr Albtraum. Edith Eva, ihre älteste Schwester Magda, Vater und Mutter werden nach Auschwitz gebracht, wo beide Eltern sofort ermordet werden.

Noch am selben Tag muss Edith Eva für Mengele tanzen, für diesen Mann mit den «kalten Augen». «Ich weiss nicht, wohin wir gehen oder was passieren wird, aber denk immer daran: Niemand kann dir nehmen, was in deinem Kopf ist», hatte ihre Mutter auf dem Weg ins KZ zu ihr gesagt. Edith Eva hat es nie vergessen. Am 4. Mai 1945 wird sie von einem amerikanischen Soldaten auf einem Haufen toter Menschen entdeckt, kaum mehr lebend. Aber mit unbändigem Willen.

Wie haben Sie all diesen Schmerz überlebt?
Edith Eger:
Minute für Minute. Ich sagte mir jeden Tag: Wenn ich heute überlebe, kann ich morgen meinen Freund wiedersehen.

Er überlebte den Krieg aber nicht.
Nein, als ich nach Hause kam, ­erfuhr ich, dass er erschossen wurde. Einen Tag vor unserer Befreiung.

Sie wollten auch sterben.
Nach meiner Rettung lag ich im Spital, die Haut bedeckte kaum noch meine Knochen, ich war sehr krank. Und mich holte die Realität ein, dass meine Eltern nicht mehr zurückkommen. Ich wurde suizidal. Aber dann entschied ich mich fürs Leben 
und fragte mich nicht mehr: Warum ich? Sondern: Was kommt jetzt?

Heute helfen Sie als Psychologin anderen traumatisierten Menschen.
Was ich in Auschwitz lernte, brachte mich zu dem, was ich jetzt tue. Ich habe gelernt, dass es keine Heilung ohne Trauer gibt. Ich führe die Leute aus dem Gefängnis in ihrem Kopf in die Freiheit. Jeder hat den Schlüssel dazu in der eigenen Tasche. Ich wünschte, ich hätte mich mit ­Hitler hinsetzen können, um mit ihm zu reden und anzuerkennen, dass er eine Menge Kummer in sich hatte. Es gibt einen Hitler in uns allen. Und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um zu verhindern, dass meine Kinder, Grosskinder und Urgrosskinder so etwas erleben werden wie ich.

Der Antisemitismus wächst wieder. Macht Ihnen das nicht Angst?
Was immer man lernt, man wird besser darin, auch im Angst­haben und Hassen. Man sollte diese Leute nicht verurteilen oder vor ihnen wegrennen, sondern ihnen zuhören.

Auch wenn sie den Holocaust verleugnen?
Unser grösster Feind ist die Ignoranz. Man sollte nie die Wahrheit eines anderen verleugnen. Wenn jemand sagt, es gab keinen Holocaust, dann sollte man nicht ­sagen: «Doch, es gab einen.» ­Sondern: «Erzähl mir mehr da­rüber.» Denn das ist seine Sicht auf die Welt.

In der Schweiz gibt es eine Gruppe, die sich selbst als
 Nazis bezeichnet und Terror­anschläge auf Juden und
Muslime plant. Was löst das
in Ihnen aus?
Ich kann nicht mehr tun, als ihnen ein Leben voller Freude zu wünschen. Vielleicht hatten diese Menschen keine sorgende Mutter oder sie sind in der Vorstellung der Überlegenheit der weissen Rasse gefangen. Diese Leute denken, die Opfer sind schwach und die Täter stark. Sie identifizieren sich mit den Tätern und verehren Hitler. Wissen Sie, «Heute Deutschland und morgen die ganze Welt», das macht ­jungen Menschen Eindruck. ­Einmal arbeitete ich in den USA mit einem 14-Jährigen, der mir sagte: «Hey Doc, es ist Zeit, dass Amerika wieder weiss wird. Ich werde alle Juden und Schwarzen, alle Mexikaner und Asiaten umbringen.» Da hätte ich auf­stehen und ihn schütteln können und ihm sagen: «Du weisst nicht, mit wem du hier sprichst. Ich sah meine Mutter in die Gaskammer gehen!»

Was haben Sie stattdessen ­getan?
Gott sagte mir, ich solle die Intoleranz in mir finden. Ich öffnete mich. Erst dann war ich in der Lage, für eine Umgebung zu sorgen, in der dieser junge Mann alle seine Gefühle fühlen und zeigen konnte, ohne Furcht, verurteilt zu werden. Ich sagte: Erzähl mir mehr. Und er erfuhr nie etwas über meine Geschichte. Das ist, was ich tue. Du kannst nicht heilen, wenn du nichts fühlst.

Vor zwei Jahren hat Eger ihre ­Lebensgeschichte niedergeschrieben. Es ist mehr als eine Autobiografie geworden. In «The Choice» beschreibt sie auch, wie man ein Trauma überwinden kann. Trotz allem, was sie erlebt hat, ist ihr Leben heute geprägt von Liebe. Sie will bis an ihr ­Lebensende weiterarbeiten und Menschen helfen. Statt zu hassen, tanzt Eger noch immer den Tanz des Lebens. Und jeden Sonntag Swing.

Vierfache Urgrossmutter

Edith Eva Eger, 1927 als jüngstes von drei Kindern in Ungarn geboren, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 im Mauthausen-Aussenlager Gunskirchen befreit. Nach Kriegsende lernte sie ihren späteren Mann kennen und zog mit ihm in die USA. Sie wurde Mutter, nahm mit Martin Luther King an Protestmärschen teil und machte ihren Doktor in Psychologie. Sie spezialisierte sich darauf, Soldaten der US-Armee beim Überwinden ­ihrer Traumata zu helfen. Eger lebt heute in Kalifornien und ist vierfache Urgrossmutter. Vergangene Woche hielt sie an der Lausanner Hochschule IMD einen Vortrag im Führungskräfte-Programm.

Edith Eva Eger, 1927 als jüngstes von drei Kindern in Ungarn geboren, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 im Mauthausen-Aussenlager Gunskirchen befreit. Nach Kriegsende lernte sie ihren späteren Mann kennen und zog mit ihm in die USA. Sie wurde Mutter, nahm mit Martin Luther King an Protestmärschen teil und machte ihren Doktor in Psychologie. Sie spezialisierte sich darauf, Soldaten der US-Armee beim Überwinden ­ihrer Traumata zu helfen. Eger lebt heute in Kalifornien und ist vierfache Urgrossmutter. Vergangene Woche hielt sie an der Lausanner Hochschule IMD einen Vortrag im Führungskräfte-Programm.

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