SonntagsBlick: Herr Karrer, waren Sie schon im Restaurant?
Heinz Karrer: Ja, wir sind einmal essen gegangen.
Und wie haben Sie es erlebt?
Mein Eindruck war, dass die Bedienung noch aufmerksamer und rücksichtsvoller war als sonst. Zum Beispiel erklärten uns die Kellner, dass sie uns den Mantel nicht abnehmen können, aus Hygienegründen. Auch die aufgestellten Plexiglasscheiben haben keineswegs gestört. So war man etwas mehr für sich.
Nicht nur Restaurants, auch Läden und Fitnesscenter sind seit Montag wieder offen. Ihr Fazit?
Die Lage ist je nach Geschäft unterschiedlich. Einige Warenhäuser haben am ersten Montag nach dem Lockdown sehr gute Umsätze gemacht. Auch Blumenläden wurden von Kunden regelrecht überrannt. Dagegen sind viele Cafés und Konditoreien noch halb leer.
Sind die Leute denn überhaupt in Shoppinglaune?
Die Konsumentenstimmung ist gemäss Umfragen sehr schlecht. Und sie wird wohl noch schlechter werden. Natürlich gibt es einen gewissen Nachholbedarf bei jenen Geschäften, die bisher geschlossen waren. Diese stehen aber vor der Herausforderung, dass sich die Nachfrage während des Lockdowns teilweise ins Internet verlagert hat. Viele Menschen, die damit positive Erfahrungen gemacht haben, werden kaum mehr in den stationären Handel zurückkehren.
Vor einigen Wochen kritisierten Sie, der Bundesrat gehe bei der Wiedereröffnung zu zögerlich vor. Wenig später zog die Regierung das Tempo an. Wie zufrieden sind Sie heute mit dem bundesrätlichen Fahrplan?
Wir sind froh, dass der Bundesrat auf die Kritik reagiert und ein schnelleres Hochfahren der Wirtschaft beschlossen hat. Das war wichtig. Insgesamt hätten wir uns dennoch schnellere Lockerungen gewünscht.
Welche denn?
Gartencenter und Blumenläden hätte man bereits am 20. April öffnen können: Für diese Läden ist im Frühjahr jeder Tag entscheidend, zudem hätte das keine grossen Kundenströme zur Folge gehabt. Dann hätten bereits am 27. April alle anderen Geschäfte ihre Türen öffnen können. Zum selben Zeitpunkt hätte der Bundesrat der Gastrobranche in Aussicht stellen können, dass sie in ein, zwei Wochen ebenfalls wieder Gäste empfangen darf. Man darf nicht vergessen: Jede Woche des Lockdowns kostete uns ein paar Hundert Millionen Franken.
Welche weiteren Schritte sind jetzt nötig?
Der Tourismus braucht eine Perspektive. Wir erwarten deshalb vom Bundesrat, dass er am 27. Mai die nächsten Schritte bekannt gibt. So sollen die Bergbahnen ab dem 8. Juni wieder fahren dürfen. Dies geht einher mit Grenzöffnungen: Der Binnentourismus alleine wird die Ausfälle der letzten Monate nicht annähernd kompensieren können. Deshalb sind wir froh um den Entscheid des Bundesrats, die Grenzen zu Deutschland, Frankreich und Österreich ab dem 15. Juni wieder zu öffnen.
Schadet das nicht dem Tourismus, weil viele Schweizer ihre Ferien im Ausland verbringen, aber kaum Ausländer hierherkommen werden?
Jeder Mensch soll seine Ferien dort verbringen dürfen, wo er möchte. Wir haben in der Schweiz auch viele Reisebüros, die auf die Vermittlung von Auslandsreisen angewiesen sind.
Derzeit haben sich die Corona-Fallzahlen auf tiefem Niveau eingependelt. Was ist, wenn die Anzahl Infizierter wieder steigt?
Wir sind jetzt in einer Phase der begrenzten Normalität. Diese Zeit wird ein bis zwei Jahre dauern – bis ein Impfstoff für die breite Bevölkerung erhältlich ist. Klar ist: Einen zweiten Teil-Lockdown darf es nicht geben.
Welche Lösung sehen Sie dann?
Wir müssen uns überlegen, welche Schutzmassnahmen möglichst grosse Wirkungen haben und möglichst wenig Schaden anrichten. Am Anfang der Epidemie hatten wir damit keine Erfahrungen, heute wissen wir viel mehr. Ich könnte mir vorstellen, dass bei einem Anstieg der Fälle wieder verstärkt Homeoffice empfohlen oder im öffentlichen Verkehr eine Maskenpflicht gelten würde. Oder dass man die Hygiene- und Abstandsregeln wieder verschärft.
Sie wehren sich also, das effizienteste Mittel gegen die Verbreitung des Virus einzusetzen?
Ein Lockdown ist eben nicht das effizienteste Mittel. Viel entscheidender ist, dass die Menschen die Abstands- und Hygieneregeln konsequent einhalten. Ein zweiter Teil-Lockdown wäre noch verheerender als der erste.
Aus medizinischer Sicht erleben wir eine erste Verschnaufpause. Wirtschaftlich aber geht die Krise jetzt erst so richtig los. Wie schlimm wird es wirklich?
Dies präzise vorauszusagen, ist unmöglich. Der Internationale Währungsfonds rechnet mit einem weltweiten Wirtschaftseinbruch von drei Prozent statt eines Wachstums von knapp vier Prozent. Für die Schweiz rechnet man mit einem Rückgang des Bruttoinlandprodukts von 5,7 bis 10 Prozent. Wobei wir am Ende wohl eher bei minus zehn Prozent landen dürften. Um das noch deutlicher zu machen: Wir sprechen von einem Wertschöpfungsverlust von 80 Milliarden Franken! Das ist eine ähnliche Grössenordnung wie die Schulden, die wir durch die Corona-Krise angehäuft haben.
Was bedeuten diese Zahlen für die Menschen in der Schweiz?
Die Arbeitslosigkeit liegt schon jetzt bei 3,3 Prozent; dazu kommen weitere 37 Prozent Erwerbstätige, die auf Kurzarbeit sind. Wir müssen davon ausgehen, dass von diesen Personen ein beträchtlicher Teil den Job ebenfalls verlieren wird. Das Resultat: Die Arbeitslosenquote dürfte auf gegen fünf Prozent steigen. Wir müssen also damit rechnen, dass viel mehr Leute ihre Arbeit verlieren, als wir es gewohnt sind. Wir schlittern in eine Rezession hinein, wie wir sie alle noch nie erlebt haben.
Ist es denn überhaupt erstrebenswert, in die alte Normalität unserer Konsumgesellschaft zurückzukehren?
In einer freien Gesellschaft soll man den Menschen nicht vorschreiben, was sie kaufen sollen und was nicht. Aber klar: Die Sensibilität dafür, wie ein Produkt hergestellt wird, ist wichtig. Dieses Bewusstsein hat bereits vor Corona eingesetzt. Wir dürfen aber auch nicht vergessen: Die Globalisierung hat geholfen, die weltweite Armut erheblich zu reduzieren. Gerade die Entwicklungsländer wird die Corona-Krise extrem hart treffen.
Kommen wir auf die politischen Auswirkungen der Corona-Krise zu sprechen. Die Grenzschliessungen und der neue Inland-Fokus der Politik sind Wasser auf die Mühlen der SVP, deren BegrenzungsInitiative am 27. September an die Urne kommt.
Die Ausgangslage ist jetzt natürlich eine andere. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das der SVP hilft. Die Erfahrung zeigt: In einem wirtschaftlich schwierigen Umfeld, wo Jobs in Gefahr sind, überlegen sich die Menschen gut, ob sie riskante Experimente eingehen wollen.
Der Verweis auf das altbekannte Argument vom Verlust der Arbeitsplätze wird für ein Nein zur Initiative kaum ausreichen.
Ich bin überzeugt: Niemand will die dramatische Situation, in der wir uns befinden, noch verschlimmern. Ich glaube deshalb auch nicht, dass die Bevölkerung den bilateralen Weg aufs Spiel setzen will.
Und wo in der Schweiz werden Sie Ihre Ferien verbringen?
Wir gehen mit der ganzen Familie ins Engadin oder auf die Lenzerheide – das haben wir noch nicht entschieden.
Heinz Karrer (61) ist seit 2013 Präsident des Wirtschaftsdachverbandes Economiesuisse. Zuvor hatte er während über zehn Jahren den Energiekonzern Axpo geleitet. Karrer ist zudem Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank und Verwaltungsrat von Ringier Sports AG.
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