Dramatischer Fahrgäste-Schwund bedroht die Leventina
Airolo auf dem Abstellgleis

Seit der Eröffnung des Basistunnels verkehren in der Leventina nur noch langsame Regionalzüge. In Airolo, der grössten Gemeinde am Gotthard, macht sich verzweifelter Optimismus breit.
Publiziert: 13.03.2017 um 15:06 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 20:54 Uhr
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Trübe Aussichten auf die Gemeinde Airolo TI und ihre Gotthardbahn.
Foto: Yvonne Leonardi
Myrte Müller (Text) und Yvonne Leonardi (Fotos)

Seit 1882 rollt die Gotthardbahn. Und die Tessiner Gemeinde Airolo steht Spalier. Es ist das erste Dorf nach dem Gotthard im Süden. Ein historisches Portal auf der Nord-Süd-Achse. Doch heute fällt der Empfang mager aus. Der Basistunnel stiehlt der alten Bahn die Show – und die Passagiere. Seit die Flachbahn die Leventina umfährt, sank die Zahl der Fahrgäste auf der Gotthard-Strecke dramatisch: Von rund 7000 auf 500 am Tag!

Die neuen Fahrpläne ärgern Airolo und die Nachbargemeinden. Sie zwingen Reisende aus dem Norden zum mehrfachen Umsteigen. Die Fahrt nach Zürich dauert nun zehn Minuten länger als früher und die Anschlusszeiten sind unbequem. Die Gäste bleiben zunehmend fern.

«In zehn Jahren gibt es die Bahn nicht mehr»

Mit Wehmut schaut Franco Buletti (53) auf das menschenleere Perron. «In zehn Jahren gibt es die Bahn nicht mehr», orakelt der Bäcker und Chocolatier. «Menschen und Unternehmen werden von hier abwandern, die Nordtessiner Täler verwaisen.»

Seit 25 Jahren produzieren Franco Buletti und sein Bruder Bruno Backwaren, Bonbons und Schokolade. Ihre Panettoni sind schweizweit bekannt. Erben haben die Brüder keine: «Was wird dann aus unserem Unternehmen?»

«Um die Kosten zu decken, braucht es doppelt so viele Fahrgäste»

Zwischen den Aktenordnern im Büro von Raffaele De Rosa (42) herrscht Ernüchterung. De Rosa ist Leiter der regionalen Wirtschaftsförderung in Biasca TI und CVP-Grossrat. Er sagt: «Ich sehe schwarz für die Zukunft der Nordtessiner Täler.» Bis 2025 sollten die jährlichen Kosten der Schienenstrecke von 50 auf 30 Millionen Franken gedrückt werden. «Doch um die zu decken, bräuchte es mindestens doppelt so viele Passagiere wie heute.»

Die S-Bahn Tilo löste den Interregio ab. Bezahlt werde der Regionalzug nicht mehr von den SBB, sondern von Kanton und Gemeinden. Die jedoch seien verschuldet, so De Rosa, «es bleibt die Frage, wie lange man sich noch eine defizitäre Gotthardbahn leisten will».

«Das Skigebiet ist ein Rohdiamant»

Das Bahndilemma spürt auch Renzo Pesciallo (45), Direktor der Seilbahnen von Airolo-Pesciüm: «Wer will schon gern mit Ski und Koffer umsteigen?» Wie viele Wintersportler deswegen wegbleiben, sei schwierig zu sagen. «Mein grösstes Problem ist eh der Schnee. Seit zwei Jahren schneit es nicht zur Ferienzeit. Ein Desaster.»

Pesciallo will sich nicht unterkriegen lassen, sagt fast euphorisch: «Das Skigebiet von Airolo ist ein roher Diamant. Es hat das Potenzial, es in die Top Ten der Schweizer Skigebiete zu schaffen.» 

«Wer ein gutes Produkt anbietet, wird nicht vergessen»

Wie der Bäcker schaut auch Marzio Forni (60) von seinem Hotel und Restaurant auf den Bahnhof. Aber mit weniger Sorge als sein Nachbar. «Unser Betrieb läuft gut. Man darf nicht die Hände in den Schoss legen, muss halt ins Geschäft investieren», sagt der Hotelier. «Dann werden wir es auch schaffen. Ich glaube fest, dass die Gotthardbahn erhalten bleibt.»

Überzeugt von der eigenen Qualität ist auch Valeria Lombardi (67). Seit der Gründung vor zwanzig Jahren leitet sie die Schaukäserei Caseificio del Gottardo mit Begeisterung. «Zu unserem Käsefondue reisen die Leute sogar aus Chiasso an.» Wer ein gutes Produkt anbiete, werde nicht vergessen, hofft sie.

«Kein Licht am Ende des Tunnels»

Gemeindepräsident Franco Pedrini (55) hofft auf den Immobilienboom: «Die Mieten in Bellinzona werden steigen. Das macht uns attraktiv für Pendler und Familien. Während das Südtessin im Smog steckt, haben wir hier frische Luft und freie Natur.» Enttäuscht vom Alptransit setzt Pedrini fast trotzig auf die zweite Gotthard-Röhre der A2, «sie wird uns Touristen zurückbringen». 

Raffaele De Rosa zweifelt am guten Willen der grossen Player. «Interessante Projekte gibt es viele, nur brauchen wir Unterstützung.» Man fördere aber den Alptransit, die Täler seien zweitrangig, sagt der gebürtige Nordtessiner. «Ich sehe für die Leventina und ihre Gotthardbahn kein Licht am Ende des Tunnels.»

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