Wer arm ist, bleibt arm
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Die Verlierer der Pandemie
Wer arm ist, bleibt arm

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise setzt vor allem den Niedriglöhnern zu. Wer bereits vor der Pandemie darbte, lebt heute in noch prekäreren Verhältnissen. Das hat Folgen für die Sozialhilfe
Publiziert: 10.10.2020 um 23:54 Uhr
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Aktualisiert: 11.10.2020 um 17:13 Uhr
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Lange Schlangen vor Essensausgaben in Zürich und Genf schockierten die Öffentlichkeit. Hungrige Mäuler in einem der reichsten Länder der Welt? Lange unvorstellbar. Heute sichtbare Realität. Der Lohn reicht oft nicht mehr zum Leben.
Foto: Siggi Bucher
Sven Zaugg

Armut blieb hierzulande oft verborgen. Doch mit dem Aufflammen der Corona-Krise vor einem halben Jahr hat sich das schlagartig geändert. Lange Schlangen vor Essensausgaben in Zürich und Genf waren ein Schock – hungrige Mäuler in einem der reichsten Länder der Welt? Früher unvorstellbar, heute brutale Realität: Der Lohn reicht für manche Schweizer nicht mehr zum Leben.

Die Armen arbeiten, die Reichen sacken ein

Dabei leisten die Beschäftigten in der Schweiz immer mehr. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist ihre Produktivität um 27 Prozent gestiegen. «Doch der gemeinsam erarbeitete Wohlstand wird sehr ungleich verteilt», urteilt der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) in seinem «Ver­teilungsbericht 2020». Demnach nahmen die untersten und mittleren Löhne im gleichen Zeitraum deutlich weniger stark zu. Die Einkommen der Topver­diener stiegen hingegen doppelt so stark wie die Produktivität; seit 1996 um fast 50 Prozent.

Die Schere zwischen tiefen Löhnen und Spitzeneinkommen öffnete sich bis zur Finanzkrise, seither blieb das Verhältnis un­gefähr konstant. Das heisst aber auch: Die Ungleichheit bleibt ausgeprägt. «Tieflöhner müssen rund zehnmal länger arbeiten, um auf denselben Lohn zu kommen wie die Topverdiener im obersten ­Prozent», rechnet der SGB vor.

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Massive Lohnausfälle

Weil sich Ungleichheiten in Krisenzeiten verstärken, traf die Corona-Pandemie vor allem jene, die am wenigsten verdienen: ­Taxifahrer, Putzfrauen, Kellner, Sans-Papiers. Serbelt die Wirtschaft, müssen sie als Erste mit massiven Lohnausfällen und -einbussen rechnen. Wer vor der Krise kaum etwas hatte, hat nach der Pandemie noch weniger. Als arm gilt in der Schweiz, wer als Einzelperson von weniger als 2259 Franken oder als vierköp­fige Familie von weniger als 3990 Franken pro Monat lebt.

Betroffen sind Hundert­tausende: 2016 zählte das Bundesamt für Statistik (BFS) im privaten und im öffentlichen Sektor 329 300 Tieflohnstellen. Insgesamt waren 473 700 Per­sonen an solchen Arbeits­plätzen beschäftigt – drei Viertel von ihnen ohne abgeschlossene ­Berufsbildung.

Eine weitere Gemeinsamkeit solcher Jobs ist ihre Unsicherheit. «Je tiefer der Lohn, desto härter schlägt die Krise durch», sagt Ökonomin Isabel Martínez (34), die zu Ungleichheit und Be­steuerung forscht. Während gut bezahlte Angestellte meist im Homeoffice weiterarbeiten konnten, blieb der Coiffeursalon während des Lockdowns geschlossen, fuhr niemand mehr Taxi, wurde das Abendessen im Restaurant abgesagt. Die Folge waren vielfach Kündigungen.

Doch es muss nicht einmal zum Stellenverlust kommen. «Ein grosser Teil der Arbeits­verträge im Stundenlohn beinhalten keine minimale Einsatzzeit, daher muss der Vertrag nicht gekündigt werden», sagt Stefan Gribi (53), Kommunikationschef beim Hilfswerk Caritas. Die Betroffenen ­haben dann weder Anrecht auf Kurzarbeitsentschädigung noch auf Arbeitslosengeld: «Für Temporärarbeitskräfte sind die Unterstützungsmassnahmen im September ausgelaufen.» Deshalb müssen Krisenopfer nun auf ihre eisernen Reserven zurückgreifen.

Allerdings sind auch diese ­ungleich verteilt: Das reichste Prozent der Steuerpflichtigen besass 2016 mehr als 42 Prozent aller versteuerten Reinvermögen in der Schweiz. Mit der Einkommensungleichheit hat die Vermögensungleichheit in den letzten Jahren zugenommen. 2003 besassen laut SGB drei Prozent der Bevölkerung die Hälfte aller Vermögen. 2016 waren es nur noch 1,9 Prozent. Sie besitzen so viel wie die restlichen 98,1 Prozent zusammen.

Die Aufstiegschancen schwinden

«Es ist ein Teufelskreis», sagt Ökonomin Martínez. «Die Reserven der Menschen, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen befinden, sind klein oder gar nicht vorhanden.» Und: Die «untersten 20 Prozent» seien sogar oft noch verschuldet. Die Folge, so Martínez: «Wer arm ist, bleibt auch oft arm. Zudem schwinden mit der wachsenden Ungleichheit auch die Aufstiegschancen.»

In der Schweiz gelten laut Bundesamt für Statistik rund 660 000 Menschen als arm. Fast ebenso viele leben nur knapp über dieser Schwelle. «Trotz Wirtschaftswachstum und rekordtiefer Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren ist es nicht gelungen, die Armut zu reduzieren», konstatiert Caritas-Mann Gribi. Dass Lebensmittelpakete wie in Zürich und Genf an grössere Gruppen abgegeben werden, sei allerdings eine neue ­Erscheinung. Eine Folge der Pandemie.

Deutlich gestiegen sind laut Gribi auch Anfragen nach Unterstützung bei den Sozialdiensten der Regionalen Ca­ritas-Organisationen. Mithilfe der Glückskette konnte das Hilfswerk nach eigenen An­gaben mehr als 10 000 Personen mit Direktzahlungen von bis zu 1000 Franken unterstützen. ­Gribi: «Die gesamte Hilfe liegt inzwischen bei über drei Mil­lionen Franken. Die Nachfrage ist weiterhin hoch.»

Dass das Arbeitseinkommen häufig nicht mehr zum Leben reicht, belegen auch die Zahlen der Sozialhilfe. Seit Ausbruch der Corona-Krise sind rund 8300 Personen mehr auf Sozialhilfe angewiesen. «Stark betroffen sind Selbständigerwerbende im Tieflohnbereich», sagt Christoph Eymann (69), Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). «Wir bereiten uns darauf vor, dass immer mehr Menschen auf die ­Sozialhilfe als unterstes Auffangnetz an­- ge­wiesen sein werden.»

Eymanns Prognose: Bis Ende 2022 könnte die Zahl der So­zialhilfebezüger von zurzeit 280 000 auf 370 000 steigen.

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