Die Schweiz legt sich auf die Couch. Die Füsse hoch, die Augen zu, der Psychiater räuspert sich, sagt: Erzählen Sie von sich! Und die Schweiz erzählt – vom Käse, den Uhren, Bergseen, der Schokolade und von Roger Federer – selbstverständlich von Roger. Auch von den Banken, vom Wohlstand. Der Psychiater nickt, schweigt – zündet sich eine Zigarette an. Zieht. Atmet aus. Rauch.
Auch Bundesrat Ignazio Cassis raucht ab und zu. Anfang Woche wurde bekannt, wen das Departement des Aussenministers als Hauptsponsor für den Schweizer Auftritt an der Expo 2020 in Dubai verpflichtet hat: den Tabakkonzern Philip Morris. Gross war die Empörung. Das Image des Landes werde beschädigt. Dieser Konzern verkörpere nicht die Werte der Schweiz.
Stimmt das? Schauen wir es uns doch etwas genauer an:
In der Schweiz gibt es eine Gegend, die Stumpenland heisst. Im 19. und Anfang 20. Jahrhundert existierten nirgends so viele Tabakfabriken auf engstem Raum wie dort – im aargauischen Wynen- und Seetal. Mütter rochen nach Tabak, wenn sie abends aus der Fabrik heimkehrten. Ihre Töchter klagten über Kopfweh und Schlaflosigkeit, weil sie nach der Schule Tabakblätter ausrippten.
Industrie ist aus Tal verschwunden
Die Gegend lebte von dem, was sich in Rauch auflöst. «Sei ein Mann. Rauche Stumpen!» war die Devise. Heute ist von der Industrie in diesen Tälern nicht mehr viel übrig. Geblieben ist ein Zigarrenmuseum – untergebracht in der ehemaligen Kapelle einer Freikirche.
Und die Schweiz auf der Couch denkt an früher. Als sie noch aus Religion, Arbeitern und Fabrikanten bestand.
Ja, die Schweiz hat sich verändert. Man raucht Zigaretten. Frau nun auch. Der Untergang des Stumpens aber war nicht das Ende der Tabakindustrie. Vielmehr markierte der Siegeszug der Zigaretten den Beginn der eigentlichen Liebesgeschichte. 1964 verlegte der US-amerikanische Tabakkonzern Philip Morris seinen Hauptsitz in die Schweiz, nach Neuenburg. Nicht weil der Neuenburgersee so schön ist. Sondern weil Philip Morris einen sicheren Hafen suchte.
Der Tabakmulti war unter Druck: Jahrzehntelang leugnete er, dass Menschen von seinen Produkten abhängig und krank werden. Und das, obwohl sogar die eigenen Werbeikonen – die Marlboro-Män-ner – an Lungenkrebs starben.
Flucht vor Schadensersatzklagen
Doch die Milliarden, die mit den Zigaretten verdient werden konnten, waren zu verlockend. Wissenschaftler wurden gekauft, Studien gefälscht. Bis es nicht mehr ging, die Wahrheit sich nicht mehr verbergen liess. Schadensersatzklagen in Milliardenhöhe drohten. Von süchtigen Kunden, von Angehörigen, deren Liebste an den Folgen des Rauchens gestorben sind.
Weiterer Tabakmulti kam in die Schweiz
Diese Klagen hätten Philip Morris ruinieren können. Darum trennte der Konzern das amerikanische vom restlichen Geschäft, und Philip Morris verschwand – ans Ufer des Neuenburgersees. Denn in der Schweiz ist es fast unmög- lich, eine Firma für Schadensersatz zu belangen.
1971 dann verlegte ein zweiter Tabakmulti seinen Sitz in die Schweiz: Japan Tobacco Inter- national.
Die Schweiz seufzt. Dabei ist das noch nicht alles, was es über sie und die Tabakindustrie zu erzählen gibt.
Der zweite Grund, weshalb Tabakmultis die Schweiz so mögen – einmal abgesehen von den steuerlichen Vorteilen –, ist die Gesetzgebung hierzulande. Dabei ist ein Punkt besonders wichtig: die Schadstoffobergrenze für Zigaretten. In der EU liegt diese bei 10 mg Teer, 1 mg Nikotin und 10 mg Kohlenmonoxid. Zigaretten, die diesen Grenzwert überschreiten, dürfen weder produziert noch verkauft werden.
Schweiz produziert hauptsächlich für Export
Auch in der Schweiz sind solche Zigaretten nicht für den Verkauf zugelassen. Produziert und exportiert werden aber dürfen sie. Deshalb haben neben Philip Morris auch die beiden anderen Tabakmultis Japan Tobacco International und British American Tobacco ihre Produktionsstätten in der Schweiz. Philip Morris exportiert fast 80 Prozent seiner in der Schweiz hergestellten Zigaretten ins Ausland. Rund 60 verschiedene Marken hat der Konzern im Angebot. Marlboro ist die berühmteste.
«Das ist nichts im Vergleich zum Käse», sagt die Schweiz, der es unwohl wird auf der Couch.
2018 exportierte die Schweiz Käse im Wert von 622 Millionen Franken. Zeitgleich aber auch Tabakerzeugnisse für 626 Millionen. Darunter vor allem starke Zigaretten. Zigaretten also, vor denen die Schweiz ihre Bevölkerung per Gesetz schützt, weil sie besonders stark abhängig machen.
«Schokolade!», wimmert die Schweiz.
Bei der Schokolade schwingt die Schweiz obenaus. Exportvolumen 2018: 991 Millionen Franken. Die Toblerone gibt es mittlerweile von Sri Lanka bis Peru zu kaufen. Darauf ist die Schweiz stolz.
Tabakfreundliche Präventionsgesetze
Stolz ist sie auch auf die Tatsache, dass Genf Sitz der Weltgesundheitsorgani-sation (WHO) ist. Der WHO ist es schliesslich zu verdanken, dass 180 Länder plus die EU verschärfte Bestimmungen für die Tabakprävention haben. Einziger Schönheitsfehler: Die Schweiz ist nicht dabei.
Eines der Hauptanliegen dieser Konvention ist ein vollständiges Werbe- und Sponsoringverbot. Was gut für die Gesundheit und schlecht für die Tabakkonzerne wäre. Oder unverblümter: eine Katastrophe! Für die Schweiz hingegen ist es etwas unangenehm, als Gastgeberin der WHO bei der Tabakprävention abseitszustehen. An der kommenden Herbstsession wird im Parlament daher erneut über das Tabakgesetz debattiert.
Tabakfreunde im Parlament
Die Konzerne mischen sich nicht allzu offensiv in die Diskussion ein. Das ist gar nicht nötig. Die bürgerliche Mehrheit hat den ersten Entwurf des Tabakgesetzes zurückgewiesen – die Politik ist den Tabakfirmen wohlgesinnt. Der Swiss-Tobacco-Präsident sitzt sogar im Parlament – SVP-Nationalrat Gregor Rutz (ZH). Strengere Gesetze brauche es nicht, findet er. Die Branche übernehme selbst Verantwortung. Er meint damit den Kodex der Zigarettenhersteller, der aufgrund des drohenden Verbots gemacht wurde: Zigaretten werden nur noch an über 18-Jährige verkauft.
Tabakkonzerne kämpfen gegen Nichtraucherschutz
In Sachen Selbstregulierung sind Tabakkonzerne bisher kaum aufgefallen. Noch 1994 bestritten Vertreter der grössten amerikanischen Zigarettenhersteller vor dem US-Kongress, dass Rauchen süchtig macht. Und 2016 kämpfte Philip Morris in Uruguay gegen einen geplanten strengeren Nichtraucherschutz. 7,5 Milliarden Franken koste das den Konzern, weil Uruguay den Rechtsstreit gewann.
Der neuste Coup: Rauchen ohne Rauch
Wie der Rauch gehört auch die Innovation zur Tabakindustrie. Auch wenn die Kunden nur das eine suchen: Nikotin, diesen schnellen Glückskick. Zurzeit erfinden sich die Tabakkonzerne gerade wieder einmal neu. Mit der gleichen Strategie wie eh und je: neues Produkt, angeblich weniger schädlich. Nach den Light- und Filterzigaretten gehen sie diesmal noch weiter: kein Rauch mehr, ein Tabakerhitzer soll es nun richten. Iqos (kurz: I quit ordinary smoking) heisst das entsprechende Produkt von Philip Morris. Nach eigenen Angaben hat der Konzern bisher über sechs Milliarden Franken in die Forschung, Entwicklung und Produktion dieser «rauchfreien Alternative» gesteckt. Das Produkt entstand in Neuenburg. Von der Schweiz aus soll es die Raucherwelt revolutionieren – und das ganz ohne Rauch. Der Marktanteil wächst langsam, aber stetig. Das Beste daran: Es ist weniger schädlich – sagt Philip Morris.
Langzeitstudien zu Tabakerhitzern fehlen
Die Weltgesundheitsorganisation ist skeptisch. Es gebe keinen Nachweis, dass Tabakerhitzer weniger schädlich seien. Zwar zeigen Stu-dien, dass weniger Schadstoffe freigesetzt werden als bei normalen Zigaretten. Diese Studien seien aber fast alle von den Tabakkonzernen in Auftrag gegeben worden. Und selbst wenn es so wäre: Sind sie damit tatsächlich weniger gesundheitsschädlich? Langzeitstudien fehlen. Experten der Europäischen Lungengesellschaft befürchten, dass die trendigen Tabakerhitzer das Rauchen wieder salonfähig machen könnten.
Die Schweiz auf der Couch ist genervt.
Der 80-Milliarden-Konzern Philip Morris ebenfalls. Ihr Unternehmen gehe durch eine «radikale und disruptive Transformation», schreibt ein Unternehmenssprecher auf Anfrage. Philip Morris habe die Vision einer Zukunft ohne Zigaretten. Anstatt diese Bemühungen zu kritisieren, sollten die Kritiker den Umstieg auf rauchfreie Produkte begrüssen.
Tabakerhitzer ist ein Schweizer Produkt
Und wie eine gekränkte Geliebte schreibt der Tabakkonzern weiter: «Unsere entsprechende Wissenschaft und Innovationen wurden weitgehend in der Schweiz entwickelt.» Darüber hinaus arbeite man mit zahlreichen Schweizer KMU zusammen. Philip Morris sei ein Innovationsführer in der Schweiz. Dutzende Start-ups und KMU hierzulande hätten im Laufe der Jahre an der Entwicklung rauchfreier Produkte mitgewirkt.
Und jetzt das: Die Schweiz schämt sich! Die Aufregung um das Sponsoring an der Expo hat es offenbart. Helevetia legt sich zwar gern mit den Tabakmultis ins Bett, in der Öffentlichkeit will sie aber lieber nicht mit ihnen gesehen werden.
Der Psychiater schaut auf die Uhr. Die Zeit ist um. Die Schweiz muss von der Couch aufstehen. Ihre Diagnose? Selbstverleugnung.
27 % der Bevölkerung rauchen
9,2 Milliarden Zigaretten wurden 2018 verkauft
9500 Menschen sterben jedes Jahr an den Folgen des Rauchens
5,6 Milliarden Franken kosten uns die Folgen des Tabakkonsums jährlich
6,3 Milliarden Franken tragen die Tabakunternehmen jährlich zum Bruttoinlandprodukt bei
11 500 Arbeitsplätze sind direkt oder indirekt mit dem Tabak verbunden
27 % der Bevölkerung rauchen
9,2 Milliarden Zigaretten wurden 2018 verkauft
9500 Menschen sterben jedes Jahr an den Folgen des Rauchens
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6,3 Milliarden Franken tragen die Tabakunternehmen jährlich zum Bruttoinlandprodukt bei
11 500 Arbeitsplätze sind direkt oder indirekt mit dem Tabak verbunden
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