Frau Schmal sitzt in ihrem ockerfarbenen Sessel, fährt mit dem Nagel des Daumens den dunkleren Rillen des ockerfarbenen Stoffes entlang. Neben ihr steht der Tannenbaum, und der Schmuck hängt am Baum, und vor dem Fenster fällt der Schnee in grossen Flocken aus einem mit Schnee und Kälte gefüllten Himmel. Frau Schmal mag das Fallen vom Schnee, die Flocken, ihr Tanzen, das Schweigen der Tannen, die Äste, die den Schnee tragen, die Füsse in groben Stiefeln, die die Menschen tragen, die durch den Neuschnee gehen, die Ruhe, die wächst, weil Schnee, die Ruhe unter dem Schnee, die Ruhe über dem Schnee, die Ruhe der Welt, das scheinbar schwerere Atmen der Welt durch die Schneedecke, die auf ihr liegt. Frau Schmal mag den Abend, nicht den Morgen. Sie mag den Abend, nicht den Tag mit seinem Tageslicht, das an Erwartungen geknüpft ist, an Bewegung und Tatendrang und Erneuerung und Willen und Absichten. Sie mag die Dämmerung, ihr blaues Licht und den Gesang der Amseln im Sommer. Am liebsten aber sind ihr die Stunden vor dem Schlaf, in denen sie weiss, sie muss nichts mehr, der Tag ist geschafft, das Bett mit dem grossen Kissen. Das Bewegen der Beine unter der Decke. Das Sinken. Das Hineinsinken in den Schlaf. Die Gedanken an eine Kindheit. Der Geruch des Waschmittels. Das Atmen ihres Mannes, der bereits schläft, der schnell einschläft und atmet und schweigt.
Und der Schnee fällt. Alles wird weiss.
An diesem Abend kommt Herr Schmal ins Wohnzimmer, legt seine Finger ins Lametta am Baum und sagt: Sollten wir dieses Jahr an Weihnachten einmal etwas anderes kochen? Vielleicht ein ostafrikanisches Gericht? Ich habe gelesen, in einem Heft, dass es sehr gute ostafrikanische Gerichte geben soll. Warum?, fragt sie, Frau Schmal, und wird dabei schwerer, und der Schnee draussen, der fällt so schön, denkt sie, so still, will nichts von niemandem.
Einfach so, sagt er. Eine Idee, sagt er und legt seine Arme um sich selbst herum. Und sie hatte mit dem Tag abgeschlossen, und sie wollte die Ruhe des Schnees betrachten, die Ruhe, die es nur ein Mal im Jahr zu betrachten gibt. Immer nur beim ersten Fallen des Schnees. Du weisst genau, ich wollte die Ruhe des Schnees betrachten, sagt sie. Ich wollte dich fragen, ob wir einmal was anderes essen wollen an Weihnachten, sagt er, vielleicht etwas ohne Fleisch, etwas mehr mit Bohnen vielleicht. Für das Gewissen, etwas ohne Fleisch, weil es so viel Fleisch von gesunden, glücklichen Tieren für die Menschen nicht gibt, wie wir Fleisch von den Tieren essen.
Herr Schmal hat ein weiches Gesicht. Ein rundes Gesicht mit weichen Wangen. Ich weiss nicht, sagt sie. Der Braten hat doch immer gut geschmeckt. Ja, das stimmt, sagt er, der hat immer sehr gut geschmeckt. Der hat immer sehr, sehr gut geschmeckt, sagt er leise beim Weggehen aus dem Wohnzimmer in ein anderes Zimmer, in dem er sich an ihren Tisch setzt und schweigt. Frau Schmal legt den Kopf an den gelben Stoff des Sessels, bewegt den Kopf langsam hin und her. Braten, denkt sie.
Und der Schnee fällt. Er fällt und fällt und fällt. Alles wird weiss, eine weisse Decke über die Welt gelegt und kleine Spuren von Stadttieren im Schnee und die Röte des Himmels hinter dem Schneevorhang, die Zweige der Bäume am Strassenrand, schwarz, auf ihnen das Weiss, so dass es aussieht, als wäre die Welt in Öl gemalt.
Später kommt er zurück, Herr Schmal, leicht gerötet sind seine Augen. Hat geweint, denkt Frau Schmal, das sehe ich, aber nicht stark und nicht lange, eher kurz. Sie schaut hoch zu ihm, der Schnee fällt. Gerade kommt das erste Kind um die Ecke gerannt, es macht einen Schneeball, es ruft etwas. Was machst du denn?, fragt Frau Schmal ihren Mann. Nichts, sagt er, nichts mache ich.
Noch mehr Kinder biegen um die Ecke und sie rufen, kreischen. Machen den Schnee durcheinander, denkt Frau Schmal. Wie laut diese Kinder sind, sagt sie, das geht doch so nicht. Sie nimmt seine weiche Hand. Sie drückt die weiche Hand, und Herr Schmal schüttelt den Kopf. Sie drückt seine Hand stärker. Nichts, nichts, sagt er. Ein ostafrikanisches Gericht?, fragt sie und lässt seine Hand nicht los. Nein, nein, sagt er und zieht die Hand weg.
Dann machen wir ein ostafrikanisches Gericht, wenn du willst, mein Lieber, sagt Frau Schmal. Nein, nein, sagt er.
Noch mehr Kinder biegen um die Ecke, und sie rufen, kreischen.
Und der Schnee fällt und fällt. Ich liebe den Schnee, sagt sie. Ja, das weiss ich, sagt er. Die Welt da draussen, die ist zu kalt für uns, sagt Frau Schmal. Und der Schnee fällt und fällt und fällt in dicken Flocken.
Ich würde aber gerne einmal nach Ostafrika reisen, sagt er, wieder sich selbst umarmend. Dort ist es warm. Dort ist es gefährlich. Hier auch, sagt er. Immer haben wir in Schnee geschaut, sagt er, und nie ist etwas passiert, und im Sommer schauen wir aufs Wasser, im Frühling in Blumen und im Herbst in den Wald, und nie passiert etwas. Ich will jetzt nach Ostafrika. Und was machst du da?, fragt Frau Schmal ihren Mann. Ich schaue, wie es dort ist. Und dann?
Dann weiss ich, wie es dort ist. Die Welt da draussen, sagt Frau Schmal, die Welt da draussen ist viel zu kalt für uns. Die Welt da draussen, sagt Herr Schmal, ist unter dem Weiss sehr farbig, und du bist grau, und ich werde auch bald grau sein.
Wir sind alt, sagt Frau Schmal und steht auf. Wir sind alt geworden, weil wir uns nicht bewegt haben. Zieh dich aus, ruft Herr Schmal plötzlich, lässt sich selbst los. Jetzt zieh dich aus. Nein, sagt sie, das ist doch jetzt verzweifelt. Ich bin verzweifelt, sagt Herr Schmal, ich bin sehr verzweifelt. Ich weiss nicht mehr, wie man die eigenen Gedanken bewegt, ich weiss nicht, wie das geht, etwas Neues denken. Es sind tiefe Gedankenlinien in mir drin. Ich habe alles aufgeschrieben. Alle Rollen, die wir haben. Ich habe alle Ichs aufgeschrieben, die du erfindest und die, die ich erfinde, und alle deine Gedanken. Ich will jetzt, dass du dich ausziehst. Nein, das werde ich nicht tun, sagt Frau Schmal, das ist ein Unsinn, das macht mich krank, das ist kalt und macht keine Freude. Aber du weisst es nicht, du weisst es nicht. Du weisst es nicht.
Herr Schmal öffnet das Fester und wirft den Weihnachtsbaum hinaus. Mit all seinen Kugeln und dem Lametta und den Engeln, dem Fuss. Es klimpert im Schnee. Er schreit dabei. Auch Frau Schmal schreit nun. Was ist denn los, was ist denn los mit dir? Du bist vom Teufel besessen. Du bist verrückt geworden. Wenn du dich nicht ausziehst, sofort, dann verlasse ich dich. Wenn du dich nicht ausziehst sofort.
Frau Schmal geht zu ihrem Mann hin und fasst ihn am Handgelenk. Sie hält ihn fest. Verrücktes Huhn, sagt Frau Schmal und drückt ihren Mann gegen die Wand. Sei still, sagt sie und lehnt sich mit ihrem Körper gegen seinen.
Und er schaut sie an und sagt, ich wünsche dir schöne Weihnachten.
Sie geht mit ihrer Hermes Baby an Feste, setzt sich in eine Ecke und schreibt Literatur: Julia Weber (34) mischt sich mit ihrer Agentur Literaturdienst.ch ein. Sie ist 1983 in Moshi (Tansania) zur Welt gekommen, 1985 kehrten ihre Eltern mit ihr nach Zürich zurück. Nach Berufslehre und Erwachsenenmatur studierte sie von 2009 bis 2012 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel BE. Dieses Frühjahr veröffentlichte sie ihren Debütroman «Immer ist alles schön» (Limmat-Verlag), der auf die Shortlist für den Schweizer Buchpreis 2017 kam. Weber lebt mit ihrem Mann, dem deutschen Autor Heinz Helle, und einem gemeinsamen Kind in Zürich.
Sie geht mit ihrer Hermes Baby an Feste, setzt sich in eine Ecke und schreibt Literatur: Julia Weber (34) mischt sich mit ihrer Agentur Literaturdienst.ch ein. Sie ist 1983 in Moshi (Tansania) zur Welt gekommen, 1985 kehrten ihre Eltern mit ihr nach Zürich zurück. Nach Berufslehre und Erwachsenenmatur studierte sie von 2009 bis 2012 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel BE. Dieses Frühjahr veröffentlichte sie ihren Debütroman «Immer ist alles schön» (Limmat-Verlag), der auf die Shortlist für den Schweizer Buchpreis 2017 kam. Weber lebt mit ihrem Mann, dem deutschen Autor Heinz Helle, und einem gemeinsamen Kind in Zürich.
Frau Schmal liegt im Bett und stellt sich etwas vor. Auch Herr Schmal stellt sich etwas vor, aber nicht im gleichen Bett. Herr Schmal liegt in einem anderen Bett, streichelt die violetten Stellen an seinem Hals, und er lacht. In Frau Schmals Gedanken rennt ihr Mann in den Schnee. Sie rennt hinter ihm. Sie rennen in den Schnee, sie rennen in den Schnee hinaus, sie rennen, und ihre Körper bewegen sich als Weiss im Weiss. Seine Beinhaare stehen von seinen Beinen ab. Sie drückt ihre Brüste an einen Baum, sie halten sich die Hände, sie kreischen und küssen sich, und sie bewerfen sich mit dem weissen, sauberen Schnee. Ihre Körper sind rosarot im Schnee. Und das Denken tut ihr weh.