Meine Welt fing vor fünf Jahren an zu «chrüsle». Von einem Moment auf den anderen tanzten kleine leuchtende Punkte vor meinen Augen. Es war, als hätte jemand einen Filter über mein Blickfeld gelegt.
Vor lauter Panik schloss ich die Augen, so fest ich konnte. Doch das Chrüsle hörte auch bei geschlossenen Augen nicht auf – und tut es bis heute nicht. Damals konnte mir niemand sagen, was mir fehlte. Wohl auch, weil die Forschung gerade erst angefangen hat, sich intensiver mit diesem ungewöhnlichen Krankheitsbild auseinanderzusetzen.
Folglich blieb dazumal meine Suche nach Antworten erfolglos. Google hob ahnungslos die Hände, genauso wie die unzähligen Augenärzte, die ich besuchte. Heute hat das Chrüsle einen Namen gegeben und man weiss bedeutend mehr darüber. «Beim Visual-Snow- Syndrom oder VSS handelt es sich um ein Krankheitsbild, bei dem die Betroffenen unter anhaltenden Sehstörungen leiden», erklärt Christoph Schankin, Leiter der universitären Kopfschmerz-Sprechstunde der Neurologischen Klinik am Inselspital Bern.
Wie im Schwarz-Weiss-Fernsehen
«Charakteristisch dafür ist ein Bildrauschen, das einem schlecht eingestellten analogen Schwarz-Weiss-Fernseher oder einem Schneegestöber gleicht. Man nimmt unzählige kleine Punkte im gesamten Sehfeld wahr, die zwischen Schwarz und Weiss hin- und herflackern.»
Und die tanzenden Punkte haben es in sich. Sie sind Tag und Nacht zu sehen – unabhängig davon, ob die Augen offen oder geschlossen sind.
Schankin ergänzt: «Weitere Beschwerden sind sogenannte Nachbilder. Ein eben gesehenes Bild bleibt weiterhin im Sehfeld bestehen, sich bewegende Objekte ziehen einen Schweif hinter sich her.»
Weihnachten, das Fest der Lichter, ist für mich also nicht gerade ein Augenschmaus. «Hinzu kommt, dass viele VSS-Patienten unter einer verstärkten Lichtempfindlichkeit oder -intoleranz leiden, die manche dazu veranlasst, Sonnenlicht, Computer, fluoreszierendes sowie das Licht von Autoscheinwerfern zu meiden», heisst es seitens der Visual-Snow-Initiative aus den USA, die weltweite VSS-Forschungen unterstützt und für mehr Aufmerksamkeit kämpft.
Momentan quält diese Sehstörung etwa zwei bis drei Prozent der Weltbevölkerung. «Simple Aktivitäten wie lesen, fernsehen, Computerarbeit, Auto fahren oder auch nur in den Himmel hinaufschauen werden zu enormen Herausforderungen», so die Initiative. Treffen kann es jeden. «Betroffene sind bei Beginn im Durchschnitt 20 Jahre alt. Häufig leiden sie schon unter einer Migräne mit Aura, sprich Migräneattacken, die von kurzzeitigen Sehstörungen begleitet werden. Dazu gehört das Sehen von flüchtigen Blitzen, farbigen Zickzack-Linien oder Sehfeldausfällen.» Die Störung habe jedoch nichts mit den Augen selbst zu tun. «Wir glauben, dass es sich hier um eine sogenannte Netzwerkerkrankung handelt, bei der die Kommunikation zwischen verschiedenen Hirnarealen nicht richtig funktioniert. Damit handelt es sich um eine Funktionsstörung des Gehirns und nicht der Augen.»
Medizinisch «normal»
Mit anderen Worten: Keiner der üblichen augenärztlichen Tests zeigt auffällige Ergebnisse, Betroffene werden als «normal» eingestuft.
Was bedeutet das für sie? Aus eigener Erfahrung legten die Weisskittel zumeist ihre Stirn in Falten, atmeten langsam aus. Dann hiess es: «Und sonst – wie geht es Ihnen mental?»
Keine unübliche Reaktion, bestätigt Schankin: «Bei unauffälligen Untersuchungsergebnissen wurden Patienten leider oftmals als Simulanten oder Verrückte dargestellt. Heute kommt dies viel seltener vor.»
Ursachen für das Visual-Snow-Syndrom konnten bisher nicht eindeutig identifiziert werden. Schankin verdeutlicht aber: «Ein grosser Teil der Patientinnen und Patienten mit VSS leidet unter Migräne mit Aura.» Die Zusammenhänge müssten tiefer erforscht werden. Weder Heilmittel noch eine Linderung der Symptome sind momentan in Sicht.
Gerade daher, so der Neurologe, sei es wichtig, mehr Bewusst- sein für VSS zu schaffen. «In der Forschung haben wir schon sehr grosse Fortschritte gemacht. Inzwischen können wir die Diagnose bei Betroffenen stellen und gezielte Forschung an grösseren Patientengruppen ermöglichen. Ich bin zuversichtlich, schon in wenigen Jahren bei der Erforschung deutlich weiter zu sein.»