Es ist diese Vertrautheit, die nur beim Wiedersehen von zwei Freunden spürbar ist. Die beiden Alt-Bundesräte Adolf Ogi (73) und Moritz Leuenberger (69) schütteln sich lange die Hand, Ogi greift Leuenberger an die Schulter. Sie stehen in ihren Mänteln in der Zürcher Bahnhofshalle und besprechen, wer die schöner polierten Schuhe hat.
Um 11.09 Uhr hätten wir den Zug nach Arth-Goldau SZ nehmen wollen, diesem ersten Stück der Zufahrtsstrecke zum Gotthard-Basistunnel. Aber auf der grossen Anzeigetafel steht in Gelb: Zugausfall. «Das wäre in unserer Regierungszeit nie und nimmer passiert», rügt Leuenberger scherzend, «aber ganz sicher nicht», stimmt Ogi ein.
Wenn am Mittwoch der Basistunnel eröffnet wird, gebührt den beiden Magistraten viel Ehre. Sie sind die politischen Väter der Neat. Ogi führte das Verkehrsdepartement von 1988 bis 1995. Dann übernahm Leuenberger und blieb bis 2010 an dessen Spitze. Es waren die entscheidenden Jahre im Neat-Dossier.
Als der Zug eine halbe Stunde später endlich Richtung Alpen fährt, sagt Ogi im Speisewagen zu Leuenberger:
«Es war ein langer Weg. Aber wir haben es geschafft, ohne Bau- und Finanzskandal».
Leuenberger: «Wenn die Menschen selber über die Infrastruktur abstimmen können, mögen sie diese eben gerne.»
Ogi: «Wenn man von der ersten Sekunde an dabei war und nun den fertigen Basistunnel sieht, ist das eine grosse Genugtuung. Es ist eine, Entschuldigung, Freude, die jetzt im ganzen Land herrscht.»
Leuenberger: «Das ist das Schöne als Infrastrukturminister: Da sieht man die Brücken, Tunnel und Strassen, die man geschaffen hat.»
Ogi: «Schau mal, Moritz, der Zürichsee, diese schöne Landschaft kann doch nur die Bahn bieten.»
Leuenberger: «Hier fragte Bill Clinton einst bei einer Durchfahrt, was das für ein Fluss sei.»
Den ersten Entwurf eines Basistunnels durch den Gotthard legte 1947 der Ingenieur Eduard Gruner (1905-1984) vor. Vier Jahrzehnte lang wurde geplant und Studien entworfen. Es sammelten sich so viele Akten an, dass sie «ein olympisches Schwimmbecken gefüllt hätten», sagt Ogi.
In den 80er-Jahren geriet die Schweiz verkehrspolitisch stärker unter Druck. Europa verlangte, die Autobahn am Gotthard für den Transitverkehr auszubauen.
Verkehrsminister Ogi versuchte, alle von der Güterverlagerung auf die Bahn zu überzeugen. «Irgendwann hatte ich das Gefühl, gegen eine Wand zu rennen», sagt er und haut mit der Faust so stark gegen das Zugfenster, dass kurz alle Gäste im Speisewagen verstummen. «Sie sehen, mein Temperament.»
Er habe deshalb zur Einzelabfertigung gegriffen. Er bestellte die wichtigen europäischen Verkehrsminister in die Schweiz und flog mit ihnen ins Urner Reusstal. «Chum und lueg» war sein Motto. Das hat des Öfteren dazu geführt, «dass ich die Minister unter dem Kreuz im Chileli von Wassen ins Gebet nehmen musste». Hier, in diesem engen Tal, könne man doch keine sechsspurige Autobahn bauen, sagte er ihnen. Und überzeugte mit seinem Naturell alle. Leuenberger schmunzelt auf dem Platz gegenüber. Er kennt die Geschichte. «Du hast auch in der Schweiz viel angestossen durch deinen Enthusiasmus, Dölf.»
Als Leuenberger das Dossier von Ogi übernahm, war vieles aufgegleist. «Mir blieben vier lose Fäden: Die Finanzierung, die Streckenführung, die Schwerverkehrsabgabe LSVA und die Bilateralen», sagt Moritz Leuenberger. Diese Fäden zum Strick zu binden mit vier Volksabstimmungen, «das erachtete ich am Anfang als ein Ding der Unmöglichkeit.»
Vor allem vor der LSVA-Abstimmung blies Leuenberger ein rauher Wind entgegen. Lastwagenführer machten obszöne Handzeichen aus ihren LKWs oder «schnitten bei Reden Grimassen, um mich aus der Fassung zu bringen. Aber das gehört zur direkten Demokratie.»
«Nächster Halt Arth-Goldau.» Um nochmals bis ans Tunnelportal zu reisen, dafür reicht den beiden die Zeit nicht. Doch der Zug zurück nach Zürich hat eine halbe Stunde Verspätung.
Etwas verloren stehen die beiden hernach am Gleis 3. Auf der Anzeigetafel wird die Abfahrtszeit mit 8.17 Uhr angegeben, mitten am Nachmittag, «No country for old men», sagt Leuenberger lakonisch. Kein Land für alte Männer. «Wir müssen ja unseren Nachfolgern noch etwas Arbeit übrig lassen», lacht Ogi. Wir steigen darum in die S-Bahn zurück nach Zürich. Zweite Klasse.
Ogi: «Ich hatte manchmal Alpträume. Sissi, die Bohrmaschine, ist plötzlich stillgestanden. Und wegen der Finanzierungsfrage hatte ich vier Mal Nierensteine.»
Leuenberger: «Die Pioramulda kam in der Nacht als Gespenst und flog durchs Zimmer.»
Ogi: «Aber gegen aussen durfte ich keine Schwäche zeigen. Es gab nur das Vorwärts.»
«Der Tunnel ist das wichtigste Puzzle-Teil»Ihr wichtigstes Bauwerk dürfen sie nun, nach 17 Jahren Bauzeit, am Mittwoch feierlich mit vielen anderen hohen Gästen eröffnen. Der Zeitpunkt sei für die Schweiz ideal, sagt Ogi. «Der Tunnel verschafft der Schweiz Respekt. Wir können etwas vorzeigen, dank dem wir mit der europäischen Union wieder auf Augenhöhe diskutieren können.»
Ogi hält im Norden eine Rede, Leuenberger spricht im Süden.
Ogi: «Das Filetstück der Neat ist gebaut.»
Leuenberger: «Ich würde Rückgrat sagen. Das Filet ist immer so schnell gegessen.»
Ogi: «Stimmt, das Rückgrat.»