Die IV und ihr Handicap
Ein invalides System

Die Serie über IV-Gutachter hat eine Brief-Lawine ausgelöst. Die Geschichte der Sozialversicherung reicht zurück bis Bismarck. Und Bundesrat Berset gelobt eine Kurskorrektur.
Publiziert: 24.11.2019 um 17:37 Uhr
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Aktualisiert: 26.12.2020 um 16:27 Uhr
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Bundesrat Alain Bersets Departement arbeitet an der Weiterentwicklung der IV.
Foto: keystone-sda.ch
Reza Rafi

Flattert eine Rückmeldung in die Redaktion, ist der Bericht gelesen worden. Gibt es mehrere Rückmeldungen, beschäftigt das Thema die Menschen. Bei einer Flut von Rückmeldungen hingegen muss etwas gröber im Argen liegen.

Seit Beginn der SonntagsBlick-Serie über die Praxis der IV-Gutachter meldeten sich unzählige Betroffene, Angehörige und Freunde von Betroffenen, Ärzte, Anwälte, Psychiater. Sind das alles bloss Enttäuschte, die leer ausgingen, und deren Fürsprecher? Die Briefe deuten auf etwas anderes hin: Das System der Sozialversicherung, mit dem sich einige machtvolle Mediziner gesundstossen, ist krank.

Der Verein Touché.ch, eine Selbsthilfeorganisation für Schmerzkranke, stellt in seinem Newsletter vom Freitag die rhetorische Frage: «Sind IV-Gutachter, die von der IV ausgewählt und bezahlt werden, neutral und unabhängig?»

Otto von Bismarck unter Druck

Die heutige Praxis hat ihren Ursprung im Deutschen Kaiserreich. Der Eiserne Kanzler, Otto von Bismarck (1815–1898), weiss Gott kein Hasenfuss, stand unter Druck. Die umstürzlerischen Bewegungen in Berlin und Hamburg müssen dem strengen Preussen ins Mark gefahren sein. Die Angst vor den Sozialisten ging um. Also setzte Bismarck, um die Massen zu besänftigen und eine Revolution zu verhindern, die Einrichtung von Hilfskassen für die Arbeiterschicht durch.

Die «soziale Frage» war der Begriff der Stunde. 1883 schliesslich unterzeichnete Kaiser Wilhelm I. das Krankenversicherungsgesetz: der Grundstein für die erste Sozialversicherung der Moderne, gelegt aus Angst. Das Gesetz war Vorbild für die Eidgenossenschaft; die erste Schweizer Regelung wird 1901 verabschiedet: die Militärversicherung. Daraus erwächst ein Vorsorgesystem, das sich im Lauf der Jahre zu einer mehr und mehr fragmentierten Versicherungslandschaft verästelt: Krankheit, Unfall, Erwerbsausfall, Militär.

Die Invalidenversicherung erlebt ihre Geburtsstunde erst 1960. Die neue Einrichtung ist von Beginn an ein forderndes Kind: Anders als ihre grosse Schwester, die zwölf Jahre zuvor gegründete AHV, benötigt die IV in jedem Einzelfall eine aufwendige Abklärung. Und die Zersplitterung des ohnehin schon komplexen Vorsorgewesens ging weiter: Mit der 4. IV-Revision 2003 wurde das Kranken- und Unfallgesetz in ein Krankenversicherungsgesetz sowie ein UVG aufgeteilt.

IV bleibt auf der Strecke

Dann setzte eine Privatisierungswelle ein: Private könnten so etwas effizienter, postulierte der neoliberale Zeitgeist. Neben der öffentlichen Unfallversicherung Suva durften fortan auch andere Kassen mitmischen. Im Wildwuchs der Versicherungen bleibt die IV auf der Strecke. Denn sie ist es, welche die grössten Kosten trägt.

Der Grund? Der Zürcher Geschädigtenanwalt Philip Stolkin (53) nennt ein abschreckendes Wort: «Die Koordinationsbestimmungen.» Wie bitte? Stolkin ist in der Öffentlichkeit für sein Engagement gegen das Sozialdetek­tive-Gesetz 2018 bekannt.

Weil die Gesetzgeber befürchteten, dass ein Versicherter dank seinen Renten reich werden könnte, bauten sie im Unfallversicherungsgesetz (UVG) eine Regel ein: Im Schadensfall zahlt die IV dem Invaliditätsgrad entsprechend die maximale Rente, während der Unfallversicherer nur die Differenz zum Gesamtanspruch begleicht. «Eigentlich müsste der Unfallversicherer alles zahlen und die IV die Differenz.» Aus diesem Grund stehe die Suva heute finanziell viel besser da als die IV. Stolkin: «Die IV bezahlt den Sockel und trägt praktisch alle Risiken, weil sie auch noch die psychischen Fälle hat.»

Kampagne gegen «Scheininvalide»

Dann nahm eine Kraft von rechts das Heft in die Hand: 2005 überzog die SVP das Land mit ihrer Kampagne gegen «Scheininvalide» – mit grossem politischen Erfolg: Die fünfte und die sechste IV-Revision (2007 und 2012) wurden zu Sparübungen. Diesmal übten nicht die Kommunisten Druck aus, sondern die SVP, die mit der Angst vor dem Systemkollaps operierte.

Dazu kam die Hilfe eines Sozialdemokraten: Bundesgerichtspräsident Ulrich Meyer (66) prägte die heutige rigide Rechtsprechung massgeblich mit. 2010 etwa beerdigte er mit einem Aufsatz die viel gescholtene «Schleudertrauma-Industrie». Meyer gilt als Wegbereiter eines äusserst medizinkritischen Gesundheitsbegriffs.

Heute gilt das Urteil des behandelnden Arztes nichts mehr, der Befund des von der IV-Stelle bestellten Gutachters hingegen alles. «Einem Arzt vorzuschreiben, was er zu tun hat, ist eine Frechheit», sagt Anwalt Stolkin. «Die Ärzte haben die Lepra besiegt, die Pest besiegt, die Malaria ausgetrocknet, uns Hygiene beigebracht und ein Leben ermöglicht. Was haben wir Juristen erreicht? Gerade mal die Hexenverbrennungen abgeschafft.»

Hausarzt gegen Gutachter

Der verrechtlichte Gesundheitsbegriff hat zur Folge, dass ein Hausarzt, der seinen Patienten kennt, diesen zu 100 Prozent als arbeitsunfähig einstuft, ein Gutachter aber nach 30 Minuten mit allergrösster Akkuratesse die volle Arbeitsfähigkeit feststellen kann: Fälle, wie sie SonntagsBlick zuhauf gemeldet wurden – und aus denen aufwendige Beschwerden entstehen, die in der Regel abgelehnt werden. Ein frustrierter Anwalt schickte einem notorisch strengen Richter einmal statt der formal korrekten Replik ein Micky-Maus-Heft – mit der Bemerkung, so könne er sich die mühsame Lektüre sparen, weil er sowieso ablehne. Es setzte eine Busse von 500 Franken.

Grundsätzlich findet Anwalt Stolkin: «Das Verfahren der IV ist insgesamt unfair und missachtet die Würde des Menschen.» Er plädiert für eine Allgemeinversicherung.

Als besonders harter Brocken bei IV-Fällen gilt SVP-Bundesrichterin Alexia Heine (50). Sie ist – welche Ironie – die Lebenspartnerin von Alexander Segert (56), dem Chefwerber der SVP, Urheberpartei der «Scheininvaliden»-Kampagne.

Bleibt die Frage, was die Haltung des sozialdemokratischen Gesundheitsministers Alain Berset (47) ist. In seinem Departement verweist man auf die Weiterentwicklung der IV, die «eine Revision zugunsten der Betroffenen» darstelle; die Qualität der IV-Gutachten sei «zentral», weshalb man zusammen mit dem Parlament an Verbesserungen arbeite: So ist eine neue Kommission zur Überwachung des Gutachterwesens in Planung. Das tönt nach einer Kurskorrektur zugunsten der kleinen Leute. Ganz wie Bismarck dazumal.

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