Die Wege sind kurz in Oberuzwil SG: «Kommen Sie doch bitte im Gemeindehaus direkt zu mir, 1. Obergeschoss, Büro 6», schreibt Gemeindepräsident Cornel Egger (61), als SonntagsBlick um ein Gespräch über die Wohnungsknappheit in seinem Dorf bittet.
Oberuzwil zählt 2990 Wohnungen. Davon standen bei der jüngsten Erhebung des Bundes im Juni 2022 nur drei leer. Die Gemeinde im Untertoggenburg hatte damit eine Leerwohnungsziffer von 0,1 Prozent – und spielt in einer Liga mit der Stadt Zürich, wo die Quote zum gleichen Zeitpunkt mit 0,07 Prozent nur unwesentlich tiefer lag. In Grossstädten wie Genf (0,47 Prozent), Bern (0,55 Prozent) und Basel (1,20 Prozent) war es gemäss Statistik sogar einfacher, eine Bleibe zu finden, erst recht in der Ostschweizer Metropole St. Gallen (2,59 Prozent).
Die Leerwohnungsziffer ist bei kleineren Gemeinden zwar mit Vorsicht zu geniessen, da wenige Wohnungen reichen, um die Quote spürbar zu verändern. Cornel Egger ist jedoch überzeugt: «Die Zahl zeigt, dass Oberuzwil als Wohnort sehr attraktiv ist. Wir sind im Grünen, haben unseren dörflichen Charakter bewahrt – verfügen aber über direkte Verkehrsanschlüsse nach St. Gallen und Zürich.»
53'000 neue Wohnungen
Egger macht keinen Hehl daraus, auf die tiefen Leerstände ein wenig stolz zu sein. Die Situation bereitet ihm aber auch Sorgen: «Wir verlieren teilweise Einwohner, weil sie bei uns keine passende Wohnung finden.»
In der Schweiz sieht das generell anders aus: Zwischen 2017 und 2021 wuchs die Bevölkerung im Schnitt um 57 300 Personen pro Jahr, 2022 kamen laut Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) gar mehr als 80 000 Personen hinzu.
Zugleich werden Haushalte im Schnitt immer kleiner, was mit der Alterung der Gesellschaft zusammenhängt – eine Entwicklung, die gemäss BWO-Sprecherin Eva van Beek nicht zu unterschätzen ist: «In den letzten Jahren haben die Haushaltsverkleinerungen zeitweise stärker zum Haushaltswachstum beigetragen als die Zuwanderung.»
Beide Faktoren zusammen haben dazu geführt, dass pro Jahr 50'000 bis 55'000 neue Haushalte entstehen. Dem steht eine seit 2018 rückläufige Wohnungsproduktion gegenüber. Damals wurden mehr als 53 000 neue Wohnungen erstellt, 2021 waren es noch 46'000 Einheiten, 2022 werden es wiederum weniger sein.
Weniger Baubewilligungen
Die ungleiche Entwicklung führte dazu, dass die Leerwohnungsziffer im Durchschnitt in nur zwei Jahren stark gesunken ist: von 1,72 auf 1,31 Prozent. Dieser rasante Rückgang macht dem Bund Sorgen. «Einen so starken Rückgang innerhalb von zwei Jahren gab es seit Jahrzehnten nicht mehr», sagt van Beek. Und: «Jüngst hat sich die Abnahme der Baubewilligungen eher noch beschleunigt. Ausgehend von diesen Zahlen wird die Wohnungsproduktion in den kommenden zwei bis drei Jahren auf unter 40'000 Einheiten pro Jahr sinken.»
In Oberuzwil leiden unter der Knappheit nicht zuletzt langjährige Dorfbewohner, die ihr Einfamilienhaus verkauft haben und für den Lebensabend eine Wohnung im Zentrum suchen, beziehungsweise in Bahnhofsnähe. «Solche Wohnungen sind bei uns derzeit kaum zu finden», sagt Gemeindepräsident Egger. Die Folge seien immer wieder unfreiwillige Wegzüge.
Ebenfalls schwierig sei die Situation für Familien, die etwas Platz brauchen. Für diese habe man in den vergangenen Jahren zwar viel investiert, namentlich in Schulen, Kitas, Spielplätze und ein Familienzentrum. An Wohnungen mit 4,5 Zimmern oder mehr jedoch herrsche ein eklatanter Mangel. Egger: «Wer Glück hat, kann das Haus der Eltern übernehmen. Sonst wird es kompliziert.» Viele, die hier aufgewachsen seien und gerne zurückkehren würden, müssten sich in anderen Gemeinden umschauen.
Einige sind froh um die Entwicklung
Oberuzwil ist längst nicht das einzige Dorf, das eine bedrohlich tiefe Leerwohnungsziffer hat. Abgesehen von der Stadt Zürich lesen sich die Top Ten der Schweizer Wohnungsknappheit eher unverdächtig: Zell ZH im Tösstal. Buochs NW, Sarnen OW und Neuenkirch LU in der Zentralschweiz. Wangen-Brüttisellen, Dietlikon und Thalwil in der Agglomeration der Stadt Zürich oder auch der Genfer Vorort Plan-les-Ouates. Berücksichtigt wurden nur Gemeinden mit mindestens 5000 Einwohnern.
Die tiefe Quote habe mit den Vorzügen der betroffenen Gemeinden zu tun, glauben Verantwortliche. «Wir sind ein attraktives Familiendorf», sagt etwa Werner Zimmermann, Präsident von Buochs.
Im Kontakt mit den Gemeindevorstehern zeigt sich aber auch, dass der tiefe Leerwohnungsbestand einigen ganz recht ist. So sagt Jürg Berlinger, Gemeindepräsident des Obwaldner Hauptorts Sarnen: «Mit einem tiefen Leerwohnungsbestand kann eine qualitative und gut überlegte Raumentwicklung mit gesundem Wachstum stattfinden.» Zudem werde man dadurch bei der Planung von Infrastruktur-Projekten wie etwa zusätzlichem Schulraum weniger überrascht.
Cornel Egger betont, ihm sei qualitatives Wachstum wichtiger als quantitatives. Das Beispiel Oberuzwil zeigt aber auch, welcher Balanceakt das ist: 2022 ging die Bevölkerung von Oberuzwil leicht zurück, von 6544 auf 6520: «In meinen 30 Jahren als Gemeindepräsident hat es das praktisch noch nie gegeben. Das ist natürlich nicht das Ziel.»
Leidensdruck nicht wie in Städten
Gleichzeitig betont Egger, dass seine Einflussmöglichkeiten auf die Bautätigkeit und die Schaffung von neuem Wohnraum beschränkt seien: «Unser grösster Hebel ist Bauland, das sich im Besitz der Gemeinde befindet. Dieses könnten wir im Notfall verkaufen, um mehr Wohnraum zu schaffen.»
Dies ist bis jetzt zwar nicht geschehen – was unter anderem belegt, dass der Leidensdruck in den Gemeinden mit tiefer Leerwohnungsziffer noch nicht ganz so gross ist wie in den Städten.
Ein Grund dafür ist die Entwicklung der Mietpreise: «Im Gegensatz zur Leerwohnungsziffer sind diese zum Glück nicht mit der Stadt Zürich vergleichbar», sagt Egger.
Bevor sie überrissene Mieten zahlen, suchen die Leute auf dem Land offenbar lieber in der Nachbargemeinde nach einer passenden Wohnung.