Das Auto krachte ungebremst in das Heck der damals 43-Jährigen. Ihr Kopf knallte zuerst auf die Kopfstütze, schnellte dann nach vorn. «Zuerst war alles ganz normal, ich füllte sogar korrekt das Unfallprotokoll aus. Später spürte ich dieses Surren und Summen im ganzen Körper», erinnert sich Heidi Müller*.
Dann kamen die Kopf- und Nackenschmerzen, die sie bis heute quälen – 10 Jahre nach dem Unfall. Die Diagnose nach vielen ärztlichen Untersuchungen: ein Schleudertrauma. Die Suva bezahlt der Frau heute 2500 Franken Rente wegen Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit zu 48 Prozent.
Detektive überwachten sie monatelang
Zahlen musste auch die Versicherung der Unfallverursacherin, die «Schweizerische Mobiliar». Doch die folgte nicht einfach den ärztlichen Einschätzungen, sondern liess die Frau während Monaten von Detektiven überwachen. 2011 bezahlte sie dann einen Schadenersatz von bescheidenen 50'000 Franken.
Vergleichbare Fälle kosten meist ein Vielfaches. «Mein damaliger Anwalt sagte mir, die Versicherung habe Überwachungsmaterial, die Verhandlungen seien schwierig. Ich hatte weder eine Ahnung von angemessenen Beträgen noch die Bilder gesehen.» Dann wurde schnell ein Vergleich mit der «Mobiliar» unterzeichnet.
«Überzeugt, dass die richtige Person observiert worden ist»
Fünf Jahre später verlangte Müller alle Akten aus ihrem Fall, darunter auch die Überwachungsvideos. «Es war ein Schock. Neben meinen Bildern waren da auch zwei Berichte über eine Observation in Australien aus dem Jahr 2010.» Doch Müller war zu dieser Zeit nie dort, wie dem Beobachter vorliegende Unterlagen zeigen. Sie hatte ihre Mutter dort zwei Jahre zuvor besucht.
Die Mobiliar beharrt dagegen in einer schriftlichen Stellungnahme darauf, die richtige Person observiert zu haben. «Ihre Schwester war in Zusammenhang mit der Observation bis 2016 nie ein Thema. Aufgrund der Unterlagen sind unsere Spezialisten überzeugt, dass in Australien die richtige Person observiert worden ist.»
Daten zeigen letzte Einreise im Jahr 2008
Allerdings hat gemäss dem australischen Movement Records Müller das Land allerdings 2008 verlassen und seither nie mehr besucht. Auf den Bildern ist vielmehr ihre Schwester zu sehen, die in Australien lebt. Der nicht nachvollziehbare Bericht der «Mobiliar» floss in die Beurteilung für den Schadenersatz ein.
Eine Neuverhandlung des Falls kommt für die Mobiliar nicht infrage: «Die Frau war anwaltlich vertreten. Der damalige Anwalt hatte die Überwachungsergebnisse auch eingesehen und das Vergleichsangebot von 2011 unterschriftlich anerkannt.»
«Vielleicht war ich dort auch mal nackt unterwegs»
Noch schlimmer für die Frau: Seit sie das Überwachungsmaterial gesehen hat, leidet sie unter einem eigentlichen Verfolgungswahn. «Ich wurde ja selber über Monate intensiv beobachtet. Der Detektiv hatte mich überall abgepasst und auch durch das Fenster in meine Wohnung gefilmt. Vielleicht war ich dort auch mal nackt unterwegs.» Für Müller ist es darum stossend, dass für die Observation von Frauen nicht zwingend Frauen beauftragt werden.
Die Überwachungsparanoia holt Müller heute manchmal noch ein. «Es kommt vor, dass ich Passanten zur Rede stelle, weil ich überzeugt bin, dass sie mir folgen. Andere habe ich selber verfolgt, um herauszufinden, wohin sie gehen.» In ihrer Wohnung übernachtet sie nicht mehr. «Das ist nicht mehr möglich. Ich komme jeweils bei Bekannten unter.» Wegen ihres Traumas geht sie mittlerweile in eine Psychotherapie.
Banale Videos
«Der Fall zeigt, wie unprofessionell und vor allem unkontrolliert private Versicherungen Observierungen anordnen und durchführen», sagt ihr neuer Anwalt Philip Stolkin, der sich auch gegen das neue Überwachungsgesetz engagiert. «Und er demonstriert, wie allein auf Grund der Tatsache, dass Überwachungsmaterial existiert, Leistungen an Opfer gekürzt werden können. Und das völlig unabhängig davon, ob die Bilder etwas Belastendes zu Tage gefördert haben.»
Auf den Videos von Heidi Müller ist zu sehen, dass sie unauffällig zu Fuss unterwegs ist, mit einem Rollkoffer den Zug nach Zürich nimmt, einen Bankomat bedient und in einem Lokal Kaffee trinkt. Erhellendes zu ihren Kopf- und Nackenschmerzen bieten die Filme nicht.
Material auch Suva zugänglich gemacht
Das Überwachungsmaterial hat die «Mobiliar» laut Anwalt Stolkin auch der Suva zugänglich gemacht. «Das zeigt, wie freizügig der Datenaustausch abläuft und wie akribisch die Versicherungen dabei vorgehen.» Und mit dem neuen Überwachungsgesetz würde dieser Austausch von geheimsten Daten sogar legalisiert.»
Wie viele Observationen private Versicherungen mit welchen Ergebnissen durchführen, ist nicht genau bekannt. «Wir haben es mit einer Black-Box zu tun», sagt Stolkin. Der Schweizerische Versicherungsverband erwähnte im Juli gegenüber «10vor10» jährlich rund 100 Observationen durch Private. Mit welchen Ergebnissen legte der Verband nicht offen. Invalidenversicherung und Suva überwachen durchschnittlich 225 Personen pro Jahr. Zwischen 2009 und 2017 waren es insgesamt 2021 Personen. Bei 1037 von ihnen wurden darauf die Renten gekürzt oder gestrichen.
Überwachungsopfer Heidi Müller hat eine klare Meinung dazu: Bei einem begründeten Betrugsverdacht sei eine Observierung nötig. «Bei mir und wohl vielen andern war das aber nicht der Fall. Überwachungen sollten darum immer von einem Richter bewilligt und von der Polizei durchgeführt werden müssen.» Anders als es das neue Überwachungsgesetz vorsieht.
* Name geändert
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch
Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch