Der St. Galler Onkologe Prof. Cerny über unsere heimtückischen Zellen
Krebs kann man nicht besiegen

Warum Schweizer Frauen immer häufiger an Tumoren sterben +++ Wie man sich wirksam schützt +++ Wie Pharma-Konzerne die Forschung behindern
Publiziert: 27.05.2012 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 13:29 Uhr
INTERVIEW: PETER HOSSLI, FOTOS: SABINE WUNDERLIN
Patient Kurt Felix mit seinem Arzt Cerny.
Foto: Sabine Wunderlin

Krebs ist die Geissel der Menschheit. An keiner Krankheit gehen mehr Patienten zugrunde. Wir alle kennen jemanden, der an Krebs erkrankt ist oder daran starb – eine Mutter, ein Kind, einen Onkel. Professor Thomas Cerny (60) gilt als bekanntester Tumorexperte der Schweiz. Er präsidiert die Krebsforschung Schweiz. Als Chefarzt der Onkologie am Kantonsspital St. Gallen behandelte Cerny auch den Entertainer Kurt Felix († 71) bis zu dessen Tod.

Professor Cerny, warum stirbt jemand an Krebs?


Thomas Cerny:
Den Krebs gibt es nicht. Es gibt 210 verschiedene Krebserkrankungen. Meist sterben Krebspatienten wegen Komplikationen durch ihre Krankheit. Oder der Tumor führt zu einer Schwächung mit Herz-Kreislauf-Versagen.

Kurt Felix hatte Krebs. Sie waren sein Arzt. Woran starb er?


Herr Felix hatte ein malignes Thymom, eine sehr seltene Krebsart. Der Tumor liegt im Brustkorb zwischen Lungen und Herz. Über die Umstände seines Todes kann ich wegen des Arztgeheimnisses nichts sagen.

Die Forschung zieht aus jeder Krebserkrankung Schlüsse. Was lernen wir aus dem Fall Kurt Felix?


Herr Felix selber sagte, der Moment der Diagnose sei ein Schock, ein Absturz ins Bodenlose. Aber er hat sich gefangen, entwickelte eine kluge, kreative Vorwärtsstrategie, befasste sich aktiv mit der Diagnose und deren Konsequenzen. Er war als Patient ein Profi und hatte die geniale Unterstützung durch Paola Felix.

Sein Leben rettete das nicht.


Felix hat die statistischen Erwartungen eines Patienten mit diesem Stadium eines Thymoms sicher übertroffen.

Weil er die richtige Einstellung dazu hatte?


Sind die Lebensgeister eines Patienten dauernd gedämpft, kann sein Körper nicht mehr alle nötigen Kräfte mobilisieren. Das geht besser, wenn er positiv ist und sich fit hält. Früher hiess es, man solle kranke Körper schonen. Heute wissen wir, dass ein kranker Körper besser reagiert, wenn er gefordert ist.

Wissen Sie, wie viel jährlich weltweit für die Krebsforschung ausgegeben wird?


Diese Zahl lässt sich schwer berechnen, da Krebsforschung stark von der breiten Grund­lagenforschung profitiert.

Gemäss US-Statistiken flies­sen pro Jahr 25 Milliarden Dollar in die Krebsforschung.


Es ist vermutlich weit mehr.

Auch noch so viel Geld hilft nicht. Vor 41 Jahren erklärte US-Präsident Richard Nixon dem Krebs den Krieg. Gesiegt hat der Krebs.


Falsch. Der Krebs hat nicht gesiegt.

Er ist unheilbar geblieben.


Wer damals glaubte, wir könnten den Krebs ausrotten, wusste nicht, was Krebs ist. Vor Nixon glaubte es John F. Kennedy, danach Ronald Rea­gan. Es waren stets reine Macherfantasien.

Es ist immer falsch, einem Feind den Krieg zu erklären, der unbesiegbar ist. Warum gewinnt letztlich der Krebs?


Wer den Krebs besiegen will, kann genauso gut versuchen, die Natur oder den Tod zu besiegen. Krebszellen sind Teil der Evolution. Sie verkörpern die zerstörerische Seite der stetigen Weiterentwicklung. Krebs ist genetisch bedingt. Unsere Gene verändern sich ständig. Wir wissen heute, dass wir dies positiv beeinflussen können – mit unserer Lebens­weise.

Warum Krebs Krebs heisst

Bei Krebs rufen fehlgesteuerte Gene bösartiges Zellwachstum hervor. Die Krankheit hat ihren Namen höchstwahrscheinlich vom griechischen Gelehrten Hippokrates (460 bis ca. 370 v. Chr.). Der oft als «Vater der Medizin» bezeichnete Arzt stellte bei der Behandlung eines Brustgeschwürs eine Ähnlichkeit mit den Krebsbeinen fest – wobei er ausdrücklich den Taschenkrebs meinte, wie ihn Professor Thomas Cerny hier in den Händen hält. Die Krabbenart kommt vor allem im Ostatlantik und der Nordsee vor. Später sah der griechische Gelehrte Galenos (129 bis ca 200 n. Chr.) Ähnlichkeiten mit Krebsen: «An der Brust sahen wir häufig Tumore, die der Gestalt eines Krebses sehr glichen.»

Bei Krebs rufen fehlgesteuerte Gene bösartiges Zellwachstum hervor. Die Krankheit hat ihren Namen höchstwahrscheinlich vom griechischen Gelehrten Hippokrates (460 bis ca. 370 v. Chr.). Der oft als «Vater der Medizin» bezeichnete Arzt stellte bei der Behandlung eines Brustgeschwürs eine Ähnlichkeit mit den Krebsbeinen fest – wobei er ausdrücklich den Taschenkrebs meinte, wie ihn Professor Thomas Cerny hier in den Händen hält. Die Krabbenart kommt vor allem im Ostatlantik und der Nordsee vor. Später sah der griechische Gelehrte Galenos (129 bis ca 200 n. Chr.) Ähnlichkeiten mit Krebsen: «An der Brust sahen wir häufig Tumore, die der Gestalt eines Krebses sehr glichen.»

Wie raffen Sie sich da auf, täglich zur Arbeit zu gehen?


Ich weiss, dass sich die Grund­voraussetzungen der Erde nicht ändern lassen, wir aber trotzdem vieles positiv beeinflussen können. Zumal die Fortschritte enorm sind. Wir haben ja noch etwas Zeit, bis in vier oder fünf Mil­liarden Jahren die Sonne erloschen sein wird – und nur schwarze Materie übrig bleibt.

Die Aussichten von Krebspatienten im fortgeschrittenen Stadium haben sich kaum verbessert.


Ihre Aussage stimmt für einige Krebsarten. Für viele haben sich Lebensqualität und Prognose stark verbessert. Dieser Trend beschleunigt sich. Aber auch wenn wir heute später sterben, sind die letzten Monate nicht angenehm, mit und ohne Krebs: Nur wenige sterben gesund.

Etliche tödliche Krankheiten sind besiegt. Der Krebs ist der ­König des Leidens geworden. Wie hat er das geschafft?


Der Krebs hat wenig dazu beigetragen, selber den Thron zu erklimmen. Wir haben andere Krankheiten ausgemerzt und wir leben heute länger. Früher wurde kaum jemand 80. Heute hat oder hatte jeder Zweite über 80 Krebs. In der Schweiz ist eine Viertelmillion betroffen.

Der Krebs verdrängte Herz-Kreislauf-Erkrankungen als häufigste Todesursache.


Der Vergleich ist unfair. Es gibt wie gesagt 210 Krebsarten. Beim Herz geht es um eine einzige grandiose Muskelpumpe. Prävention ist da einfacher. Es braucht – salopp gesagt – einen geschickten Klempner, der die Leitungen offen hält und die Pumpe gut wartet. Bei Krebs muss man es in jeder Zelle mit der Urmaterie der gesamten belebten Welt aufnehmen.

Warum sind Krebszellen so heimtückisch?


Weil sie so gigantisch komplex sind. Jede trägt die gesamte im Embryo entwickelte genetische Information in sich. Damit sich ein spezifisches Organ herausbilden kann – ein Auge, ein Ohr, das Gehirn –, werden in den zuständigen Zellen 99,5 Prozent des Erbguts stillgelegt. Erst wenn dieses Schweigen in den Zellen gebrochen wird, kann sich später ein Tumor bilden.

Was bricht das Schweigen?


Es braucht einen Auslöser. Zigaretten, ein blöder Zufall, kosmische Strahlen. Durch den Darm fliesst tonnenweise chemisches Material. Hat eine Zelle Pech, ­reagiert sie auf die Chemie. Das kann eine Mutation auslösen. Dann dauert es womöglich weitere fünf bis zwanzig Jahre, bis sich ein Tumor entwickelt. Der kann gut- oder bösartig sein.

Die Mittel gegen den Krebs sind brachial: vergiften, operieren oder radioaktiv bestrahlen.


Wir sind da weiter und gezielter, brauchen häufiger Immuntherapien. Es gibt Medikamente, die verhindern, dass Tumore ausbrechen. Besonders weit sind wir bei Brustkrebs.

Bei Chemotherapien fallen Patienten die Haare und Fingernägel aus, die Lebensfreude schwindet, ebenso das Selbstvertrauen. Die Behandlung raubt die Lebensqualität.


Es ist eine Frage der Wahrnehmung. Von den 100 Millionen Menschen, die jede Woche fliegen, hört man nichts. Stürzt ein Flugzeug ab, ist das in den Schlagzeilen. Von den meisten Krebspatienten merken Sie nichts. Sie stehen neben Ihnen im Bus, sie sehen normal aus, sind froh, wenn sie nicht über ihre Krankheit reden müssen.

Bei Krebsbehandlungen werden Körper verstümmelt und Köpfe kahl. Warum verbessert sich die Lebensqualität nicht?


Sie hat sich massiv verbessert. Ich bin seit 35 Jahren Onkologe. Als ich anfing, gab es keine Medikamente gegen das Erbrechen. Heute haben Frauen oft keinen Haarausfall mehr. Früher starben zwischen 30 bis 40 Prozent der Patienten bei Leukämie­behandlungen an Infektionen. Heute sind es nur noch einige Prozent. Viele werden geheilt.

Auf null kommen Sie nicht.


Eine Operation ist immer eine Körperverletzung mit Folgen. Jede Chemotherapie und Bestrahlung wird vorübergehend zur Belastung. Das wird bleiben. Viele Krebspatienten aber müssen heute nicht mehr ins Spital, können ambulant behandelt werden – und arbeiten.

Heilen aber können Sie den Krebs nicht.


Den Krebs nicht, aber viele Krebsarten sind zunehmend heilbar. Es ist unsere Motivation, unheilbare Situationen zu verringern.

Bei der Kinderleukämie schnellte die Heilungsrate von zehn auf 75 Prozent. Nun stagniert sie.


Sie wird noch einige Zeit stagnieren. Es gibt Leukämieformen, die sehr resistent sind. Für diese kleine Gruppe wirksame Mittel zu entwickeln, ist aufwändiger als für die häufige Situation. Vor 20 Jahren entdeckten wir die Haarzell-Leukämie, davon gibt es in der Schweiz 20 bis 30 Fälle. Daran stirbt fast niemand mehr. Durch glückliche Zufälle wurde ein Medikament entdeckt.

Besonders krass sind die Misserfolge bei Bauchspeicheldrüsenkrebs. Innerhalb von fünf Jahren sterben 95 Prozent der Patienten. Warum?


Der Fortschritt wird kommen. Die Bauchspeicheldrüse liegt versteckt. Es gibt keine zuverlässige Früherkennung, nur Spätsymptome. Macht sich der Krebs bemerkbar, hat er Metastasen gebildet.

Die Entwicklung von Medikamenten ist fehlgeschlagen.


Die Bauchspeicheldrüse ist ähnlich wie die Leber – ziemlich stark bei der Abwehr von Giften und resistent gegen die aggressive Verdauungsumgebung – daher auch resistent gegen viele Medikamente.

Fliessen die Forschungsgelder an die richtigen Stellen?


Die Forschung ist zu stark kommerziell ausgerichtet. Sobald jemand ein Urheberrecht anmeldet, erforschen andere dieses Gebiet nicht mehr genügend intensiv. Deshalb wird heute weniger seriös geforscht als vor 30 Jahren. Wir wissen über alte Medikamente mehr als über neue.

Was müsste sich ändern?


Wäre das gesamte verfügbare Wissen wie früher allen Forschern zugänglich, könnten wir für mehr Patienten schneller einen Nutzen generieren.

Es ist verständlich, dass Pharma­firmen und Wissenschaftler den Anreiz des Geldes brauchen, um zu forschen.


Das ist völlig falsch. Hat Newton etwa nicht geforscht? Oder Einstein? Oder Max Planck? Forscher treibt das intellektuelle ­Interesse an, die Neugier, vielleicht das Prestige. Geld ist sekundär.

Wenn der Forscher bei Novartis arbeitet, muss er Patente finden, welche Geld bringen.


Wenn der Forscher bei Novartis arbeitet, gehört er meist nicht mehr zur Spitze. Ein Top-Forscher geht dorthin, wo er die Neugierde ausleben kann und nicht, wo ihm ein Marketing-Fritze sagt, er müsse das 57. Medikament gegen Brustkrebs entwickeln. Die grossen Pharmakonzerne sind nicht mehr innovativ, sie behindern die Krebsforschung. Roche hat in zwanzig Jahren kein einziges selbst erfundenes Krebsmedikament auf den Markt gebracht.

Was treibt Pharmafirmen an?


Sie wollen Geld verdienen, und das ist okay. Nehmen Sie Rev­limid, ein Medikament zur Behandlung von Knochenmarkkrebs. Es kostet einige Franken in der Herstellung – und wird für 12'000 Franken im Monat verkauft. Das ist pervers.

Was kann man da tun?


Die Pharmalobby in Washington ist mittlerweile so einflussreich wie die Lobby der Waffenindustrie. Da werden Milliarden eingesetzt, um die Gesundheits­politik der westlichen Welt zu beeinflussen. Wie geschickt es die Pharmaindustrie anstellt, zeigen ihre Rekordergebnisse. Keiner Branche geht es besser.

Läuft es wenigstens in der Schweiz besser?


Es gibt hier enorme administrative Hindernisse. Die klinische Forschung ist völlig verbürokratisiert. Es kann zwei bis drei Jahre gehen, bis alle Hürden für eine klinische Studie überwunden sind. Es dauert zu lange, bis an sich marktfähige Medikamente den Markt erreichen.

Wo sind die grössten Fortschritte auszumachen?


Die Sterblichkeit hat bei allen häufigeren Krebserkrankungen abgenommen, ausser beim Lungenkrebs der Frauen. Leider glauben Schweizerinnen, sie emanzipierten sich durch die Zigarette. Besonders verheerend: Die Raucherrate bei Mädchen zwischen 12 und 16 nimmt zu. Schlimm ist das, weil die jungen Körper noch wachsen und empfindlicher sind.

Die Rauchprävention wird die Frauen erreichen.


Leider bin ich da nicht sehr optimistisch. Mädchen rauchen, weil sie glauben, es mache sie schlank. Würden heute Frauen aufhören zu rauchen, ginge die Todeskurve erst in zehn bis 15 Jahren zurück.

Wo gibt es die grösste Chance für echte Fortschritte?


Bei Früherkennung und Präven­tion. Deshalb braucht es Präven­tionsgesetze.

Wir sind ein freies Land, jeder weiss selber, was gut für ihn ist.


Quatsch. Wir wissen, dass man Krebs früh erkennen und so besser behandeln kann. Das müssen vor allem die Gesunden begreifen. Es braucht eine nationale Strategie, damit sich alle ab 50 regelmässig in den Hintern schauen lassen. Zumal 95 Prozent der Tumore 15 bis 20 Jahre gutartig unterwegs sind.

Tragen Krebspatienten denn eine Schuld?


Es ist klar, dass Rauchen Krebs fördert. Doch es gibt Personen wie Altkanzler Helmut Schmidt, die ein Leben lang rauchen, aber ­keinen Krebs entwickeln.

Wie kann man Krebs am besten vorbeugen?


Die Antwort ist fast langweilig – es geht schliesslich immer ums Gleiche.

Weil wir wissen, dass Rauchen besonders schlimm ist?


Das tönt verharmlosend. Wer raucht, inhaliert 400 krebser­regende Substanzen. Wenn Sie eine nackte Maus mit diesen Substanzen bestreichen, können Sie kurze Zeit später auf der Maus ­bereits Tumore ernten.

Nicht jeder, der raucht, erkrankt an Krebs.


Es dauert 15 bis 20 Jahre. Tatsächlich sind nicht alle betroffen. Aber wir wissen nicht, wer genetisch veranlagt ist. Durch Antirauchkampagnen lässt sich die Zahl Krebstoter am besten reduzieren.

Was raten Sie Nichtrauchern?


Sie sollen sich mehr bewegen. Bewegung bewirkt enorm viel, nicht nur bei Krebs. Sie belebt Herz und Kreislauf, ist gut bei Diabetes, für das Hirn.

Wo zeigt Prävention sonst noch Wirkung?


Sich gesund zu ernähren – allerdings ist es nicht einfach zu sagen, was gesund ist. Man sollte nicht zu viel Alkohol trinken und sich vor Sonne sowie sexuell übertrag­baren Krankheiten schützen.

Wie wichtig sind Umweltein­flüsse?


Unsere Umwelt ist sauberer geworden. Es hat weniger Feinstaub und weniger Chemikalien als noch vor 50 Jahren.

Und Stress?


Lange dachte man, jegliche Form von Stress sei krebsfördernd. Es lässt sich aber nicht nachweisen. Bricht eine Krebserkrankung aus, kann Stress den Verlauf negativ beeinflussen.

Es wäre doch möglich, mit Gentests genaue Aussagen zu machen, wer an Krebs erkrankt.


Das geht noch nicht. Vielleicht wird es nie gehen. Zumal es Gene gibt, die Risiken in einem relevanten Ausmass voraussagen. Andere Gene wiederum schliessen diese Risiken aus. Eine klare Aussage lies­se sich erst machen, wenn wir alle genetischen Informationen aller Leute über einen längeren Zeitraum korrelieren können. Das bedingt gläserne Patienten – was kaum akzeptabel ist.

Was tut ein Wissenschaftler, der nicht alles weiss?


Die Verantwortung beginnt, wo das Wissen aufhört. Solange man etwas weiss, macht man rational nachvollziehbare Handlungen.

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