Vom Tod ihrer Mutter erfährt Marion am TV. «Es war Mittagszeit, die Grosseltern passten auf meine Schwestern und mich auf. Wir schauten ‹Emmerdale Farm› an», eine britische Seifenoper.
Marion ist neun. «Dann kam eine Einblendung. Flugzeugabsturz in der Schweiz. An Bord: Frauen aus Südengland.»
Heute steht Marion Booker (50) aus Weston-super-Mare (Grossbritannien) in einem Waldstück in Herrenmatt, einem Weiler bei Hochwald SO. Dort hat die Solothurner Regierung eine Gedenkstätte eingerichtet für die Opfer des Invicta-Flugs 435.
Ein Union Jack weht, dazu eine Schweizer Flagge. Eine Tafel erinnert an die 108 Todesopfer.
Marion Bookers Mutter Kathleen († 39) ist eine der Toten. Die Tochter legt zwölf Rosen nieder.
Vier rote, vier weisse, vier rosarote. «Meine Mutter war Floristin, sie liebte Rosen», sagt Booker.
Sie steht zum ersten Mal am Ort, an dem ihre Mutter starb. Ihr Mann Andrew (50) hält Marion Booker im Arm. Sie weint.
10. April 1973. Flug 435 aus Bristol ist im Anflug auf Basel-Mülhausen. Die erste Landung auf Piste 16 hat die Crew abgebrochen, die Vickers Vanguard 952 der Chartergesellschaft Invicta musste durchstarten.
Es schneit. Die Sicht ist miserabel. Beim zweiten Landeanflug verlieren die Piloten die Orientierung.
Die Propellermaschine fliegt viel zu tief. Um 11.13 Uhr prallt sie in Herrenmatt bei Hochwald SO in ein Waldstück. 108 von 139 Insassen sterben (siehe Box).
«Unsere Grosseltern realisierten sofort, was passiert war. Sie versuchten, es uns zu erklären», sagt Booker.
«Ich verstand es aber nicht, war ganz aufgeregt. Ich ging zum Spielen raus und erzählte meinen Freundinnen vom Flugzeugabsturz.»
Als Abends der Vater heimkam, habe er erst ihre Schwestern geküsst, sagt Booker. «Als ich an der Reihe war, umarmte ich ihn einfach. Ihm kamen die Tränen. Er ging sofort ins Schlafzimmer, schloss die Tür. Wir standen davor und hörten ihn schluchzen.»
Bauer Hansruedi Vögtli (80) aus Herrenmatt ist als Erster am Absturzort, um 11.15 Uhr alarmiert er die Feuerwehr, holte Hilfe. «Die Schreie der Opfer habe ich noch heute im Ohr», sagt er.
Heute steht er neben Marion Booker, erklärt die Flugbahn der Vier-Propeller-Maschine. Zeigt, wo sie einen Hügel streifte, sich auf den Rücken drehte, im Waldstück aufschlug. Wo die Trümmer lagen, die Verletzten und Toten aus ihren Gurten geschnitten werden mussten.
Bookers Mutter gehört wie fast alle Passagiere zur Axbridge Ladies Guild, dem Frauenverein der Ortschaft Axbridge in der Grafschaft Somerset.
Sie wollten die Mustermesse besuchen, dann nach Luzern, auf den Pilatus. Der Absturz macht viele Kinder in Axbridge von einem Moment auf den anderen zu Halbwaisen.
Ihr Schicksal rührte die BLICK-Leser. Sie spendeten, ermöglichten den «Axbridge Kids» ein halbes Jahr nach dem Absturz zwei Wochen Ferien in der Schweiz.
«Ferienglück für die Waisen von Hochwald» hiess die Aktion – auch Marion und ihre Schwestern Carol (15) und Julie (13) reisten damals in die Schweiz.
Am zweiten Ferientag veröffentlichte BLICK ein Porträt von Marion: «Es gefällt mir wunderbar in der Schweiz», sagte das Mädchen. «Aber von Zeit zu Zeit muss ich eben doch an meine ‹Mam› denken …»
Die Kinder besuchten das Bundeshaus, den Basler Zolli und Swissminiatur in Melide TI. Die Absturzstelle wollte man ihnen nicht zumuten.
Zum ersten Mal sieht Marion Booker die Gedenkstätte. «Wir Schwestern treffen uns zum Muttertag, Geburtstag unserer Mutter, an Weihnachten am Grab unserer Mutter. Aber zum Absturzort hatte es noch keine geschafft», sagt Booker.
«Ich wusste, dass ich eines Tages in die Schweiz will. Aber ich schob es vor mir her.»
Dass sie es jetzt zur Absturzstelle geschafft hat, hat einen tragischen Grund. «Ich habe Krebs. Es fing an mit Brustkrebs, die Behandlung lief gut. Doch dann breitete sich der Krebs wieder aus, ist jetzt im Endstadium.»
Sie wisse nicht, wie viel Zeit ihr noch bleibe. «Deshalb war es jetzt an der Zeit, nach Hochwald zu kommen.»
Der Besuch der Gedenkstätte habe ihr gut getan, sagt Marion Booker. «Ich habe hier Frieden gefunden.» Sie hat Fotos gemacht, die sie ihren Schwestern zeigen will.
«Ich wünschte, ich wäre früher hergekommen. Ich will meine Schwestern davon überzeugen, auch in die Schweiz zu reisen. Und ich hoffe, wir können die Gedenkstätte zu dritt noch einmal besuchen.»