Es war eine Woche der Extreme: Vor allem die Zentralschweiz und die Westschweiz erlebten Jahrhundert-Niederschläge. Seen stiegen über die Ufer, die Reuss schwoll auf der Höhe von Hünenberg ZG innert Stunden von 430 auf 689 Kubikmeter pro Sekunde an – zu viel für die 100-jährigen Dämme.
Es war knapp: Hätte nicht der Zivilschutz die Löcher mit Blachen und tonnenweise Kies verstärkt, wären die Wassermassen wohl in die Reussebene geflossen und hätten Felder und Dörfer überschwemmt. «Das ist ein Weckruf», sagt Markus Zumsteg, Leiter der Sektion Wasserbau des Kantons Aargau. «Es ist ein Fingerzeig, dass wir vorwärtsmachen müssen. Es wird heikel.»
Jährlich 380 Millionen Franken werden investiert
Seit den extremen Hochwassern 2005 haben Bund und Kantone insgesamt 4,5 Milliarden Franken in den Hochwasserschutz gesteckt. Und es sollen weiterhin jährlich rund 380 Millionen Franken sein. Im Jahr 2021 beträgt das Bundesbudget für Schutzprojekte rund 170 Millionen Franken. In den Vorjahren lag der Bundesanteil bei 120 Millionen.
Doch oft hapert es bei der Umsetzung: Zu viele Parteien müssen sich einig werden. Wie zum Beispiel bei der Reuss. Seit 15 Jahren wird diskutiert, wie der Hochwasserschutz in Zukunft aussehen soll. Einig ist man sich eigentlich nur, dass etwas passieren muss. Markus Zumsteg steht mitten drin. «Wir versuchen es allen Seiten recht zu machen. Es ist ein sehr komplexer Prozess.» Er gibt zu: «Die 15 Jahre sind eine lange Zeit.»
Bauern gegen Naturschutzorganisationen
Das Problem: Die Bauern wollen am liebsten nur den Damm erhöhen, damit sie möglichst wenig Land abtreten müssen. Auf der anderen Seite steht der Naturschutz, der die Reuss möglichst breit ausbauen möchte, damit Vögel, Fische und Insekten wertvollen Lebensraum gewinnen. Dann sind da noch die Gemeinden, die alle in der Nähe des Damms eine Grundwasserfassung haben und bei einem Ausbau darauf verzichten müssten.
Auch verzögernd wirkt, dass die Reuss in dem Gebiet an die zwei Kantone Aargau und Zug grenzt. «Beide Kantone müssen mit dem Ausbau einverstanden sein. Sonst bewilligt der Bund die Hochwasser-Massnahmen nicht, und es gibt keine Subventionen», erklärt Markus Zumsteg.
Am anderen Ufer der Reuss steht der Zuger Kantonsingenieur Urs Lehmann. Auch er will Gas geben: «Wir wollen das Projekt möglichst schnell dem Bundesamt für Umwelt einreichen, dann können wir es öffentlich auflegen.» Doch dann geht das Pingpong mit den Einsprachen erst los.
Immer wieder Einsprachen
Die Naturschutzorganisation Pro Natura Aargau bringt sich bereits in Position. Vizepräsident Christoph Flory: «Vor allem der Kanton Zug will auf Biegen und Brechen jeden Quadratmeter Landwirtschaft erhalten.» Pro Natura würde lieber die Reuss verbreitern. Flory erklärt: «Es gewinnt nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch der Hochwasserschutz. Bei einem natürlicheren und breiteren Flussbett wird eine Überflutung selbst bei einem 300-Jahr-Ereignis unwahrscheinlich.»
Betroffen ist Gemüse- und Obstbauer Jonas Boog (33). Sein Gebiet liegt direkt hinter dem Damm. Er wird sicher mehr oder weniger Land abgeben müssen. «Wir werden zusammen mit der Gemeinde und dem Kanton bestimmt eine konstruktive Lösung finden», sagt er zu Blick. Er macht aber klar: «Es sind viele Betriebe betroffen. Der Kulturlandschwund wird zunehmend ein Problem für die Landwirtschaft.»
Der Kanton Luzern ist mit seinem Projekt ein paar Dutzend Kilometer weiter südlich bereits ein paar Schritte weiter. Die Planung liegt öffentlich auf. Und kein Wunder: Schon sind 56 Einsprachen eingegangen. Und auch diese Bearbeitung dauert wieder.
Schleitheim hätte Verwüstung nicht verhindern können
Weniger Glück als die Reussebene hatte das Schaffhauser Dörfchen Schleitheim. Das Unwetter traf die 1700-Seelen-Gemeinde mit grosser Wucht. Der Dorfbach flutete die Siedlung auf der ganzen Breite. Dabei sollten dort schon Massnahmen ergriffen werden. Drei Wochen vor dem Unglück hat Gemeindepräsident Urs Fischer (56) das Dorf auf den neusten Stand gebracht: Das Bachbett soll bis zu 70 Zentimeter tiefer und die Mauern erneuert werden. Die Brücken und einzelne Häuser werden hochwassersicher gemacht.
Doch auch die Massnahmen hätten nichts genützt. Fischer: «Unser Dorf liegt am tiefsten Punkt und ist wie ein Flaschenhals. Es gibt keine Möglichkeit, den Bach neben dem Dorf durchzuführen oder zu verbreitern. Oberhalb vom Dorf fliesst der Bach in einem natürlichen Bett, man kann nichts renaturieren. Da könnte man höchstens ein Auffangbecken bauen.» Das Dorf hatte bereits 1999 und 2016 je eine Jahrhundert-Überschwemmung. Die Flut letzte Woche war von der Wassermenge her ein 300-Jahr-Ereignis.
«Es war ein Extremereignis»
Noch schwerer getroffen als Schleitheim wurde das Westschweizer Dorf Cressier NE Mitte Juni. Die beiden Dorfbäche liefen über, Wasser, Erde und Geröll wälzte sich durch die Gassen und drang in die Häuser ein. Etwa 75 Gebäude werden in Mitleidenschaft gezogen.
Wie in Schleitheim ist es in Cressier schwierig bis unmöglich, diese Schäden zu verhindern. Kantonsingenieur Nicolas Merlotti: «Selbst eine nach allen Regeln der Kunst ausgeführte Verbauung hätte die Schäden von diesem Unwetter nicht verhindert. Es war ein Extremereignis.»