Der Psychiater, der Anwalt und der Gefängnisdirektor
Arbeiten am Abgrund

Wie geht man mit dem Bösen um? Ein Psychiater, ein Anwalt und ein Gefängnisdirektor erzählen.
Publiziert: 11.03.2018 um 16:45 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 23:20 Uhr
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Dem Vierfachmörder Thomas N. wird ab Dienstag der Prozess gemacht.
Foto: ZVG
Tobias Marti

Mancher seiner Gesprächspartner muss Hand- und Fussfesseln tragen. Manchmal ist es auch sicherer hinter der Trennscheibe. Meist aber sitzt Steffen Lau (52) einfach so im Raum – allein mit Mördern, Vergewaltigern, Pädophilen. Lau ist forensischer Psychiater, einer von 15 im Kanton Zürich. Ihre Aufgabe ist es, in komplexen Strafverfahren Gutachten zu erstellen. Gefährlichkeit beim Gegenüber zu erkennen, darum geht es auch ihm. Ein Job, so angenehm wie Schwertschlucken.

Bei den Gesprächen mit den Tätern geht es ans Eingemachte. Sie ziehen sich über Stunden, über Tage hin. Abgründe tun sich auf, das Böse zeigt seine hässlichste Fratze. «Es gibt Fälle, wo auch wir fassungslos sind», sagt der Forensiker. «Wir sind ja keine Roboter.» Angst, Ekel, Betroffenheit, Entsetzen, Fassungslosigkeit, all das empfindet auch Lau. Nur dürfen ihn die Gefühle bei seiner Entscheidung nicht beeinflussen. Manchmal kann er nicht mehr, manchmal auch der Täter nicht. Dann gibt es einen Unterbruch.

«Man muss auf der Hut sein»

Von den Sexualstraftätern lässt sich Lau alles minutiös schildern. Was haben Sie genau getan? Wie haben Sie es getan? Wie oft haben Sie es getan? Zuhören, Widersprüche erkennen, die Person beobachten. «Man muss auf der Hut sein», sagt Lau. Die Täter hätten das Recht zu lügen, besser dastehen zu wollen, Details wegzulassen. Eigentlich ein ganz natürliches Verhalten. Auch Normalos verschweigen Unangenehmes gern. «Wer die Arbeit mit nach Hause nimmt, macht diesen Job nicht lange», sagt Lau. Psychohygiene, etwa im Austausch mit den Kollegen oder Supervisoren, sei essenziell. Anders als Kollegen von ihm hat er bisher noch keinen Fall abgelehnt – wie abstossend auch immer, etwa wenn Kinder grausam getötet wurden. Ein besonders schreckliches Verbrechen verstört die Schweiz noch immer, schlägt alle in seinen Bann: der Vierfachmord von Rupperswil. Der Täter, Thomas N., steht nächste Woche vor Gericht. Brutalität und Perversion seines Verbrechens sind beispiellos (siehe Box). «Derartige Fälle kommen alle zehn Jahre vor. Sogar europaweit gesehen», sagt Forensiker Lau.

Warum wird aus einem Menschen ein gewissenloser Mörder? Der deutsche Psychiater, Psychotherapeut und Autor Borwin Bandelow (66) glaubt, eine Antwort gefunden zu haben. Seine These im Buch «Wer hat Angst vorm bösen Mann?» geht so: Hinter dem Bösen steckt oft die Sucht nach Endorphinen. An diesen Glückshormonen fehle es Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung.

Und diese Leute, etwa ein Prozent der Bevölkerung, müssten das Fehlen der Endorphine irgendwie ausgleichen. «Drogen, Alkohol oder Sex sind Möglichkeiten.» Aber eben auch Macht und Aggression. «Das Opfer soll winseln und um Gnade flehen. Das gibt Antisozialen ihren Endorphin-Kick», so Bandelow.

Mitgefühl und Reue fehlen fast vollständig

Machtfantasien ausleben, körperliche und psychologische Gewalt ausüben: Das habe auch Thomas N. gewollt.

Bandelow hält eine lebens­lange Verwahrung deswegen für wahrscheinlich. N. sei einfach zu gefährlich, um wieder auf die Allgemeinheit losgelassen zu werden. «Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass weder eine Psychotherapie noch Medikamente diese Störung therapieren können», sagt er. Typisch für die Antisozialen sei, dass ihnen Mitgefühl und Reue fast vollständig fehlen.

Ein weiteres Symptom: ihr manipulativer Charme. «Psychopathen sind keine Autisten. Sie können die sozialen Gefühle des Gegenübers sehr gut erkennen – und ausnutzen.» Ein Minenfeld für Gutachter, Therapeuten und Juristen, so Bandelow. «Viele sind auf diesen Charme schon hereingefallen.»

«Zum Mörder kann jeder werden»

«Was mein Mandant mir sagt, muss ehrlich sein. Aber er muss mir nicht alles sagen, eine Reserviertheit bleibt ihm vorbehalten.» Hugo Werren (68) lacht: blaue Fliege, blaue Brillengläser, schulterlange Mähne. Wäre der Mann nicht Rechtsanwalt, einer Karriere als Magier stünde nichts im Weg.

Werren hat auch schon Babyschüttler und Totschläger vor Gericht vertreten. Er weiss, wie es ist, wenn Jahre später das mulmige Gefühl auftaucht, der Mandant könnte eben doch der Täter gewesen sein!

«Zum Mörder kann jeder werden», ist er überzeugt. Unter gewissen Umständen: etwa aus Eifersucht, im Affekt, getrieben durch eine höchst kränkende, tief verletzende Provokation. «Dann ist die Steuerung des Hirns eingeschränkt.»

Den Fall Rupperswil würde er ohne Zögern annehmen, sagt Werren. «Weil alle, Psychopathen eingeschlossen, Anspruch auf ein faires Verfahren haben.» Dies sei ein Recht, das bis auf die Römer zurückgehe. Kein Zweifel: Der Mann kann Pathos.

Sie bekommen Liebesbriefe, manipulieren Therapeuten, faszinieren die Menschen von Höngg bis Hongkong: die Psychopathen. Im Knast ist es dann aber vorbei mit ihrer Herrlichkeit. Sexualstraftäter, Vergewaltiger, Pädophile, Typen wie Thomas N. gelten unter den Knastis als Bodensatz.

Der Fall

Die Feuerwehrmänner sind die Ersten, die das Grauen zu Gesicht bekommen. Vier verkohlte Leichen. Es handelt sich um Carla Schauer (†48), Sohn Davin (†13), Sohn Dion (†19) und seine Freundin Simona (†21). Es ist der 21. Dezember 2015, ein Montag. Der Tag geht in die Schweizer Kriminalgeschichte ein. Der Mörder ist Thomas Nick (heute 35). Schweizer, Junggeselle, unscheinbar. Er wohnte 500 Meter vom Tatort entfernt. Mit einer List schlich er sich ins Haus. Während er die übrigen Fami­lienmitglieder gefangen hält und bedroht, liess er Carla Schauer Bargeld besorgen. Dabei plante er die Tötung aller Anwesenden von Anfang an. Den jüngeren Sohn missbraucht er. Alle waren gefesselt und geknebelt worden, bevor er ihnen die Kehle durchschnitt. Die Leichen übergoss er mit Brandbeschleuniger und steckte sie in Brand. Rund ein halbes Jahr nach dem Verbrechen wird Nick in einem Café verhaftet. Er legt ein Geständnis ab. Wie man ihm auf die Schliche kam, sagt die ­Polizei nicht. Technische Mittel spielten eine Rolle, die Fahnder werteten Daten von 30000 Handynutzern aus. – Nick hatte wohl weitere Taten geplant.

Die Feuerwehrmänner sind die Ersten, die das Grauen zu Gesicht bekommen. Vier verkohlte Leichen. Es handelt sich um Carla Schauer (†48), Sohn Davin (†13), Sohn Dion (†19) und seine Freundin Simona (†21). Es ist der 21. Dezember 2015, ein Montag. Der Tag geht in die Schweizer Kriminalgeschichte ein. Der Mörder ist Thomas Nick (heute 35). Schweizer, Junggeselle, unscheinbar. Er wohnte 500 Meter vom Tatort entfernt. Mit einer List schlich er sich ins Haus. Während er die übrigen Fami­lienmitglieder gefangen hält und bedroht, liess er Carla Schauer Bargeld besorgen. Dabei plante er die Tötung aller Anwesenden von Anfang an. Den jüngeren Sohn missbraucht er. Alle waren gefesselt und geknebelt worden, bevor er ihnen die Kehle durchschnitt. Die Leichen übergoss er mit Brandbeschleuniger und steckte sie in Brand. Rund ein halbes Jahr nach dem Verbrechen wird Nick in einem Café verhaftet. Er legt ein Geständnis ab. Wie man ihm auf die Schliche kam, sagt die ­Polizei nicht. Technische Mittel spielten eine Rolle, die Fahnder werteten Daten von 30000 Handynutzern aus. – Nick hatte wohl weitere Taten geplant.

«Für den Betrieb sind sie problemlos»

«Die anderen Insassen gehen ihnen aus dem Weg, sie sind die Aussenseiter», sagt Marcel Ruf, Direktor der Justizvollzugsanstalt (JVA) Lenzburg. Bestenfalls. Oft werden sie auch von anderen Häftlingen körperlich angegriffen. Gewalt sei in Lenzburg aber kein Thema, alle Bereiche der Anstalt seien gut einsehbar, so der Direktor. Auch die pathologischen Gewaltverbrecher sitzen in Lenzburg im Normalvollzug und selten in der Hochsicherheitsabteilung. Ruf: «Für den Betrieb sind sie problemlos, sie machen keinen Ärger, sind zurückhaltend und ruhig.»

Das Gleiche wird aus dem Gefängnis Pöschwies über Thomas N. berichtet. Psychiater Bandelow erstaunt das nicht. Bei Serienmördern gehöre es quasi zum Berufsbild, unauffällig zu sein: «Sie helfen den Nachbarn und fahren Opel.»

* Name der Redaktion bekannt

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