Missstände aufdecken ist eine primäre Rolle von Journalisten. Wenn solche in den eigenen Reihen geschehen, wird es besonders unbequem. So passiert in den letzten Tagen.
Auf der Tamedia-Redaktion werden Sexismus-Vorwürfe laut. In einem am letzten Wochenende publik gewordenen Protestbrief schildern 78 Mitarbeiterinnen eine sexistische Unternehmenskultur, weitere 37 haben ihre Unterschrift seither nachgereicht: Männer besetzten fast alle Schlüsselpositionen, Frauen würden «ausgebremst, lächerlich gemacht und schlechter entlöhnt», Managerinnen oder Politikerinnen als «trockene Guetzli» oder «Mädel» bezeichnet.
Das Flaggschiff der Tamedia-Gruppe ist der Zürcher «Tages-Anzeiger». Die landesweit bekannte Zeitung gilt – oder galt zumindest jahrzehntelang – als linksliberal und progressiv. Vor einem rauen Klima für Frauen schützt das mitnichten.
«Auch linke Männer können sexistisch sein», sagt Inlandsredaktorin Salome Müller. Auf der Redaktion in Zürich äussere sich dies meist nicht in schlüpfrigen Sprüchen, sondern unterschwellig. Die Journalistinnen fordern nun konkrete Verbesserungsmassnahmen.
Wenig Selbstreflexion
Die Vorwürfe stehen nicht im luftleeren Raum. Es brodelt in der ganzen Schweizer Medienlandschaft. In den letzten Monaten wurden Sexismus-Fälle beim Westschweizer Radio und Fernsehen RTS und bei der RSI im Tessin publik. Und doch: In der Post-Weinstein-Ära zeigen die Medien gern auf die verschiedensten Branchen – die Redaktionen selbst erscheinen in der Berichterstattung wie ein blinder Fleck. Eine der wenigen Journalistinnen, die dazu recherchiert hat, ist Simone Rau. Sie arbeitet als Reporterin – bei Tamedia.
2019 zeigte Rau in einer Umfrage auf, dass jede zweite Schweizer Journalistin sexuelle Belästigungen oder Übergriffe bei der Arbeit erlebt hat. Rückmeldungen auf die versandten Fragebogen flatterten ihr aus allen grossen Verlagen zu, auch von Kolleginnen aus dem eigenen Haus. Zwei Jahre zuvor hatte die «Tages-Anzeiger»-Autorin Michèle Binswanger einen kritischen Artikel mit dem Titel «Chef der Zudringlichkeiten» über einen Ringier-Chefredaktor veröffentlicht (SonntagsBlick gehört zum Ringier-Verlag).
Gespräche mit aktuellen wie früheren Tamedia-Mitarbeiterinnen zeigen: Offenbar sind es oft bestimmte Personen und bestimmte Ressorts, die intern eine «sexistische Alpha-Männchen-Kultur» streuen. Das Problem sei aber vor allem «struktureller Natur», betonen die Frauen. Sie verweisen etwa auf den «geringen Frauenanteil bei Führungskräften von 20 Prozent». Dies führe zu einer «Männerklub-Atmosphäre mit einer allgemein tolerierten Gesprächskultur voller Schulterklopfen und lahmen Witzen».
Männer bei Tamedia solidarisierten sich mit ihren Kolleginnen und doppelten in einem E-Mail an die Chefetage nach. «Tages-Anzeiger»-Journalist David Sarasin: «Innerhalb von 24 Stunden haben 125 Männer unterschrieben. Wir sind überzeugt, dass die von unseren Kolleginnen geforderten Schritte zu einem besseren Arbeitsklima führen würden.»
Nicht alle haben sich angeschlossen
Mehrere profilierte Journalistinnen – darunter Michèle Binswanger – haben den Protestbrief hingegen nicht unterzeichnet. Eine ehemalige Ressortleiterin distanzierte sich auf Twitter: «Ich möchte klarstellen, dass ich in meinen Leitungspositionen keine sexistischen Anspielungen erfahren habe und geschätzt wurde.» Ihr sei es wichtig, eine andere Sichtweise einzubringen, erklärt sie am Telefon. SonntagsBlick hätte gerne auch mit Esther Girsberger, erste «Tages-Anzeiger»-Chefredaktorin, und Judith Wittwer, die bis 2020 als Chefin amtete, gesprochen. Beide wollten keine Stellung nehmen.
«Hier zeigt sich keineswegs ein reines Tamedia-Problem», sagt Fatimata Niang, Gleichstellungsverantwortliche beim Journalistenverband Impressum. «Bei uns beschweren sich Frauen aus allen grossen Verlagen über Sexismus.» Boys Clubs und Misogynie kämen in vielen Redaktionen vor, sagt auch Nadja Rohner, Co-Präsidentin des Vereins Medienfrauen Schweiz: «Aber nicht in jedem Team. Die Kultur in den einzelnen Ressorts ist stark von den jeweiligen Chefs abhängig.»
Der Protest bei Tamedia beschäftigt nun die obersten Chefs. Verwaltungsratspräsident Pietro Supino zeigte sich «sehr betroffen». Tamedia-Chefredaktor Arthur Rutishauser und «Tages-Anzeiger»-Co-Chefredaktorin Priska Amstutz äusserten in einem Artikel ihr Bedauern. Sie versprechen eine interne Untersuchung und geloben Besserung. Die «konsequente Förderung von Frauen» sei eine Priorität. Eine Projektgruppe werde bis Mitte Mai eine «verbindliche Strategie» erarbeiten.
Kommende Woche ist ein virtuelles Treffen zwischen allen Involvierten geplant.