Hierhin führt kein Zug. Nur ein Postauto kommt stündlich. Der Verkehr auf der A2 rauscht kilometerweit entfernt vorbei. Im Bleniotal ist die Natur unberührt – und menschenleer. «Unsere Herbergen sind nur noch zu zehn Prozent belegt», sagt Marino Truaisch (67), Gemeindepräsident von Olivone TI. «Dabei haben wir eine der schönsten Landschaften der Schweiz.» Dennoch kommen immer weniger Touristen.
Das soll sich mit dem Parc Adula ändern. Der Nationalpark steht nach 16 Jahren mühsamer Vorbereitungszeit vor der Umsetzung. «Das Gebiet zieht sich in den Kantonen Tessin und Graubünden über fünf Regionen, sagt der Projektdirektor Martin Hilfiker (47). Neben dem Bleniotal gehören das Misox, das Calancatal, die Viamala und die Surselva dazu. Es gelte nicht nur, einzigartige Natur zu schützen, sagt Hilfiker, sondern auch die regionale Wirtschaft anzukurbeln. Er ist sicher: «Wir werden die Touristen zurückholen.»
Parc Adula soll zum Markenzeichen werden
Die streng geschützte Kernzone (145 Quadratkilometer auf über 2000 Meter Höhe) soll zum Juwel werden, das auf ein 1100 Quadratkilometer grosses Randgebiet ausstrahlt. Martin Hilfiker: «Parc Adula wird ein Markenzeichen, ein neues Gütesiegel, das sich sehr gut vermarkten lässt. Über Dienstleistungen und Kultur sowie regionale Produkte wie Käse, Wein, und Wurstwaren.» Über fünf Millionen Franken sollen Bund, Kantone und Gemeinden jährlich in die Regionen investieren.
Luciano Arcioni (50) sieht darin eine grosse Chance für seine Landwirtschaft. «Projekte, die in den Schubläden schlummern, könnten mit den neuen Investitionen angeschoben werden», sagt der Milchbauer. Er hat Visionen: «Da wäre die geplante Käserei, verschiedene Themen-Wanderpfade und ein Mountainbike-Parcours.»
Ornella Schneidt (68) lebt mitten im Schutzgebiet. Sie und Ehemann Emilio (69) führen die Capanna Motterascio in der Greina-Hochebene.
«Auch wir spüren die Krise», sagt Hüttenwartin Schneidt. «Sicher bringt uns der Parc Adula neue Gäste. Aber die strengen Auflagen des Nationalparks machen uns ein wenig Sorgen.» Schneidt gibt zu Bedenken: «Wenn man vom Wanderweg nicht abschweifen darf, bleiben den Berggängern viele schöne Ecken verborgen.»
Voller Hoffnung blicken der Künstler Werner Birnstiel (50) und Ökonomin Pia Steiner (49) in die Zukunft. Vor elf Jahren haben sie in Olivone eine Villa aus dem 19. Jahrhundert zu einem Bed & Breakfast umgebaut. Das Ehepaar ist sich einig: «Hier liegt so viel brach. Tourismus, Landwirtschaft, Kleingewerbe. Es braucht den neuen Nationalpark. Wir freuen uns auf ihn.»
Ausserdem wären Vorstösse wie der Bau eines Stausees mit dem Parc Adula endgültig vom Tisch, sagt Pia Steiner.
Auch Gemeindepräsident Marino Truaisch rührt die Werbetrommel in eigener Sache: «Das Bleniotal», schwärmt er, «hat zwar keine Strände, aber anderen Luxus: die klare Bergluft, die einzigartige, wunderschöne Landschaft und vor allem himmlische Ruhe.»
Stimmbürger fällen Entscheid
Nun liegt es an den 16'000 Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern in den insgesamt 17 Gemeinden: Stimmen sie im Herbst dem Projekt an der Urne zu, steht der Geburt eines neuen Nationalparks nichts mehr im Weg.