Wieder steht die katholische Kirche wegen Missbrauchsskandalen am Pranger. Das kommt nicht nur daher, dass ihre Ordensgemeinschaften lange im Erziehungswesen engagiert waren und Täter dies ausnutzen konnten. Staatliche Bildungseinrichtungen, Sportverbände und Behindertenorganisationen hatten auch Leichen im Keller.
Die katholische Kirche wird aber zu Recht härter kritisiert, weil sie in letzter Zeit allzu sehr als Moralinstanz aufgetreten ist und andere hohe moralische Massstäbe angelegt hat. Sie hat immer weniger die Auferstehung von den Toten verkündet und dafür Abstimmungsempfehlungen abgegeben, zum Beispiel über Verkaufszeiten von Tiefkühlpizzas an Tankstellen. Und sie hat es als ihre Aufgabe angesehen, alle zum achtsamen linksgrünen Leben zu führen. Das war hochgradiger Moralismus. Und je höher man fliegt, desto brutaler ist dann der Absturz.
Moral ist kein Selbstzweck
Auf das Leid der Missbrauchsopfer und den Image-Schaden muss die katholische Kirche deshalb nicht nur mit Aufarbeitung und der Bestrafung der Täter reagieren, so sehr das geboten ist. Die Frage ist auch, wie sie in Zukunft auftreten will.
Sicher ist es für sie in einer postchristlichen Gesellschaft verlockend, nicht mehr primär religiöse Botschaften zu verbreiten, sondern als zivilreligiöser Moralinspender zu fungieren. Aber ihr eigentlicher Auftrag ist es, Glaubenswahrheiten zu verkünden über Gott und die Bestimmung des Menschen: Nach christlichem Glauben ist der Mensch kein durchgeknalltes Tier, das im Unterschied zu anderen Tieren zwar denken und deshalb die Welt beherrschen kann, dann aber wie die anderen Tiere verlöscht.
Nein, der Mensch ist ein Kind Gottes mit einer ewigen, über diese Welt hinausgehenden Bestimmung. Das ist der Kern der christlichen Botschaft. Nur wenn das zuerst gilt und angenommen wird, kann die Kirche dann ‒ im Sinne der Moral ‒ für ein kohärentes Leben gemäss dieser Bestimmung werben. Denn Moral ist immer ein «Zweites», nicht Selbstzweck einer Religionsgemeinschaft.
Tausende von Nieten in der Kirche
Wenn eine Religionsgemeinschaft Moralismus betreibt, indem sie im Namen Gottes politische Botschaften unter die Leute bringt oder diese nach den Kriterien der politischen Korrektheit in Gute und Böse einteilt, verfehlt sie also nicht nur ihre Aufgabe. Sie wirft einen Bumerang. Und sie braucht sich nicht zu wundern, wenn der in Form von Skandalberichten über das kirchliche Bodenpersonal zurückkommt. Die Kirche, das Schiff Petri, wird durch Tausende von Nieten zusammengehalten. Wenn sie das selbst vergisst, wird sie früher oder später von anderen daran erinnert.
Der habilitierte Kirchenrechtler Martin Grichting (49) ist Generalvikar des Bistums Chur.
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