Der Epidemiologe Andreas Cerny fordert einen Sonderweg für den Südkanton
«Das Tessin sollte die Schulen erst im September öffnen»

Andreas Cerny, Direktor des Epatocentro Ticino am Corona-Referenzspital Moncucco in Lugano TI, weist auf Studien aus England und China hin, die eine Ansteckungsgefahr bei Kindern belegen.
Publiziert: 24.04.2020 um 22:31 Uhr
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Andreas Cerny ist Epidemiologe und Direktor des Epatocentro Ticino am Corona-Referenzspital Moncucco in Lugano.
Foto: © Ti-Press / Ti-Press
Interview: Myrte Müller

Vor einer Woche gab der Corona-Krisenmanager des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) grünes Licht für die Wiedereröffnung der Schulen. Das Argument von Daniel Koch (65): Kinder seien nur marginal von Covid-19 betroffen und würden das Virus kaum übertragen. Von dieser Einschätzung ist der Arzt Andreas Cerny (64) nicht überzeugt. In einem Interview mahnt der bekannte Tessiner Epidemiologe zur Vorsicht.

BLICK: Herr Cerny, BAG-Experte Daniel Koch hält Kinder in der Corona-Epidemie für wenig gefährdet und wenig ansteckend. Teilen Sie diese Auffassung?
Andreas Cerny:
Ich wäre vorsichtig mit solchen Einschätzungen. Wir haben einfach noch zu wenig Daten. Es gibt zum Beispiel Modell-Berechnungen, die das Gegenteil aussagen. Eine kommt vom Imperial College London. Die Flaxman-Studie hat errechnet, dass nach der strengen Kontaktsperre die Schliessung der Schulen den grössten Effekt auf die Eindämmung des Virus hatte. Eine andere, epidemiologische Untersuchung aus China bestätigt, dass Infektionen gleichermassen in jeder Altersstufe erfolgen und auch weitergetragen werden.

Wie kommt Daniel Koch zu dieser Schlussfolgerung, die immerhin politische Entscheidungen des BAG beeinflusst?
Daniel Koch stützt sich wahrscheinlich auf eine Studie aus Island, die in einer Untersuchung an der dortigen Bevölkerung feststellte, dass nur ein sehr geringer Prozentsatz der infizierten Kinder unter zehn Jahre alt war.

Diese Studie überzeugt Sie nicht?
Die Datenlage ist sehr dürftig. Man muss hinterfragen, wie weit die Epidemie gediehen war, als die Daten erhoben wurden. Da erscheinen mir die Daten aus China relevanter, da die Epidemie dort bereits viel fortgeschrittener war.

Ist die baldige Wiedereröffnung der Schulen eine Fehlentscheidung?
Für die Deutschschweiz ist so ein Vorgehen vertretbar. Die Fallzahlen sind dort ja erheblich niedriger als beispielsweise im Tessin. Auch wenn mich immer wieder Anfragen besorgter Lehrer erreichen, die sich vor einem neuen Schulbetrieb fürchten.

Gilt dies auch fürs Tessin?
Nein. Hier haben wir eine andere Situation. Die Zahlen im Tessin sind eher mit denen der Lombardei vergleichbar. Wir wissen nicht, wie weit das Virus in der Gesellschaft verbreitet ist. Zudem haben viele Tessiner direkt mit Covid-19 zu tun gehabt. Es waren Freunde und Verwandte durch das Virus betroffen. Die Angst vor Corona ist hier in der Bevölkerung viel grösser.

Wann sollten die Schulen im Südkanton wieder öffnen?
Unsere Situation gleicht derjenigen in der Lombardei. Wir sollten uns nach deren Massnahmen richten. Dort öffnen die Schulen erst im September wieder. Das sollte auch im Tessin so sein.

Der italienische Pädiater-Verband Simpe warnt davor, dass zwischen 42 und 47 Prozent der Kinder infiziert sein könnten, also fast jedes zweite Kind. Klingt das realistisch?
Wir haben einfach noch zu wenig Daten, um genau festzustellen, in welchem Masse Kinder sich infizieren. Ein Problem dabei ist sicherlich, dass nur sehr wenige Kinder überhaupt getestet werden, weil die Infektionen bei ihnen asymptomatisch oder nur mit leichten Symptomen auftreten und sie somit nicht zu jenen Personengruppen gehören, die getestet werden dürfen.

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