Der Aufstieg des Cervelats zur Nationalwurst
Als es wegen dem Klöpfer chlöpfte

Das Schicksal des Cervelats ­bewegt die Nation schon seit Jahrzehnten. Ein Rückblick.
Publiziert: 27.07.2015 um 21:33 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 20:16 Uhr
Von Adrian Meyer

Es gibt ja den bösen Verdacht, dass man nie genau weiss, was in einem Cervelat alles drinsteckt. Und von welcher Qualität es ist. Genauso verwirrlich wie die Zutaten ist seine Namensherkunft: Laut einer gängigen Theorie stammt Cervelat vom lateinischen cerebellum ab, der Verkleinerungsform für cerebrum. Sprich: Gehirn. Doch Hirn wird in keinem historischen Rezept für den Cervelat erwähnt, steht im «Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz». Es nennt einen anderen möglichen Ursprung: Die Ähnlichkeit des Cervelats zu einem dicklichen Holzblasinstrument aus dem Früh­barock im 17. Jahrhundert: dem Rankett, auch Wurstfagott genannt. Auf Italienisch heisst es cervellato.

Einstige Edelwurst

Erstmals erwähnt wird der Cervelat im Kochbuch der Augsburger Autorin Sabina Welserin von 1553. «Wie man zerwulawirstlach machen soll» heisst das Rezept für die Wurst aus Schweinefleisch, Speck, Käse und zahlreichen exotischen Gewürzen. Eine Edelwurst, die wenig mit dem heutigen Cervelat zu tun hatte.

Diesem näher kommt das älteste Schweizer Cervelat-Rezept im «Bernerischen Koch-Büchlein» von 1749. Unter «Servella» stand dort: «Nimm Speck und Schweinefleisch, oder wann du willst Schaaf- oder anders Fleisch, hacke es wohl, nimm Salz, Pfefferpulver, weissen Wein, Nägelipulver, Majoran, Lauch oder Zwibelen, nimm dann auch ein wenig frisches schweinigs Blut, knette alles wohl untereinander, thue es in die Därme Wursts-Weise, hernach räuche sie im Camin etwelche Tage, koche sie im Wasser, thu zuletzt ein wenig Wein daran.»

Der Siegeszug

Den eigentlichen Siegeszug des Cervelats, der heute einen grossen Anteil Rindfleisch enthält, ermöglichte erst die Erfindung des Fleischwolfs vor rund 200 Jahren. Damit liess sich feines Brät in grossen Mengen produzieren. Wurst wurde günstig und beim einfachen Volk beliebt. Und zwar vor allem bei Arbeitern in den industrialisierten Städten wie etwa in Basel, wo man die Wurst Klöpfer nennt. Weil man den Cervelat kalt zum Znüni essen kann, als ­Salat, oder aber gegrillt oder gekocht, weil er günstig war, wurde er zum «Büezerkotelett», zu einem Grundnahrungsmittel der einfachen Leute, zur Volkswurst.

Die Schweizer lieben sie. 160 Millionen Stück werden jährlich hergestellt. Und doch ist diese Liebe zwiespältig. Einerseits empört sich das Volk, sobald es seinen Cervelat bedroht sieht. So versuchten 1890 in Basel die Metzgereien, ein Wurstkartell zu bilden, indem sie gemeinsam die Cervelat-Preise um 30 Prozent erhöhten. Die Bevölkerung war in Aufruhr, einige Bürger gründeten den Antiwurst-Verein, riefen zum Wurstboykott auf – bis die Metzger endlich einknickten. Der Streit ging als «Basler Wurstkrieg» in die Stadtgeschichte ein.

Vor kurzem bangte gar die ganze Nation um den Cervelat: während der «Darm-Krise» im Jahr 2008 (siehe Kasten).

Anderseits muss der Cervelat herhalten für abschätzige Vergleiche. Das Image einer Wurst für arme Leute blieb haften. Einfache Arbeitersiedlungen in den Städten nannte man Cervelat-Viertel, Schweizer Halbstars heissen Cervelat-Prominente – wohl aus Mangel an Adel und schillernden Stars.

Daran schuld sein dürfte wohl die mangelnde Wurstqualität um 1900. Metzger mischten damals Kartoffelmehl bei oder verwendeten billiges Pökelfleisch aus den USA. Nachdem der Staat, etwa in Basel, Wurstkontrollen eingeführt hatte, besserte sich die Qualität. Schon bald, so schreibt «Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz», wurde der Cervelat zur «Visitenkarte jedes Metzgermeisters». Und schliesslich zur Kult-Wurst.

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