Das Schulhaus im Elternhaus
«Nur wenige Wunderkinder retten ihr Talent ins Erwachsenenalter»

Heimunterricht kann funktionieren. Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm aber warnt, dass Eltern sich oft überschätzen.
Publiziert: 02.07.2017 um 14:01 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 07:18 Uhr
Margrit Stamm: «Lassen Eltern ihre Kinder in die Schule, ist das ein Zeichen des Vertrauens. Das Kind merkt: Ich kann ein mündiger Mensch werden, auch ohne Eltern.»
Foto: Marco Zanoni
Interview: Aline Wüst

Die Kinder der Familie Toth besuchen keine Schule und lernen ohne Lehrplan. Trotzdem sind sie aussergewöhnlich talentiert. Ein Zufall?
Margrit Stamm:
Die Forschung zeigt, dass etwa die Hälfte der Kinder gut ohne äussere Impulse lernen kann. Die andere Hälfte braucht zum Lernen Strukturen und Unterstützung.

Bei den Toths scheint es zu funktionieren.
Das streite ich nicht ab. Grundsätzlich überschätzen sich Eltern aber häufig. Sie denken, ihr Kind sei ein Diamant, den man schleifen kann und dann kommt er raus, wie man will. Das ist nicht so. Es gibt viele andere externe Faktoren, die eine Persönlichkeit schleifen. Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, nehmen ihnen damit auch etwas weg.

Soziale Kontakte beispielsweise.
Und zwar vor allem soziale Kontakte, die nicht gewollt sind. Genau daraus lernen Kinder: Wie löse ich Konflikte, wie gehe ich mit Menschen aus anderen Kulturen um? Lassen Eltern ihre Kinder in die Schule, ist das ein Zeichen des Vertrauens. Das Kind merkt: Ich kann ein mündiger Mensch werden, auch ohne Eltern.

Wo sehen Sie das Hauptproblem, wenn Kinder daheim unterrichtet werden?
Ein Kind spürt extrem, was Eltern erwarten. Es spürt, dass es geliebt wird, wenn es produktiv ist, wie sich die Eltern das vorstellen. Dieser Druck verstärkt sich beim Heimunterricht, weil die Eltern die alleinigen Bezugspersonen sind.

Wird ein Wunderkind automatisch ein aussergewöhnlicher Erwachsener?
Erstaunlich ist, dass nur sehr wenige Wunderkinder ihr Talent über die Pubertät hinausretten.

Woran liegt das?
In der Pubertät machen viele dieser Kinder eine Art Midlife-Crisis durch. Was beim Kleinkind herzig und einfach war, verlangt nun eine aussergewöhnliche Anstrengung. Sie müssen plötzlich viel üben, und das auf einem hohen Niveau. Oft reicht das Talent dann doch nicht oder aber die Interessen verlagern sich. Sie finden kein Kind, das automatisch und ohne Anstrengung zu einem überragenden Erwachsenen wird. Nehmen Sie als Beispiel Roger Federer. Er hat extrem hart trainiert für seinen Erfolg.

Frühförderung boomt. Ist sie Garant für erfolgreiches Leben?
Erwiesenermassen haben Kinder aus benachteiligten Familien mehr Erfolg, wenn sie früh gefördert werden. Bei Familien aus der Mittelschicht hingegen gibt es dafür keinen empirischen Nachweis. Kinder, die viel draussen spielen, werden später genauso erfolgreich wie Kinder, die schon früh extrem gefördert werden.

Sie sprechen von «Förderwahn» und rufen zu mehr Gelassenheit auf.
Ja, denn es kommt im Leben ebenso stark auf emotionale wie intellektuelle Kompetenzen an. Gerade Homeschooler und Unschooler kritisieren, dass die Schule das Kind nicht in den Mittelpunkt stellt und es zwingt, Dinge zu lernen, für die es nicht bereit ist. Doch Schule bildet eben auch in anderer Weise. Das Kind lernt Bedürfnisse aufzuschieben, nicht immer im Mittelpunkt zu stehen, Misserfolge zu ertragen. Die Forschung zeigt, dass solche emotionalen Kompetenzen genauso mit dem späteren Lebenserfolg verknüpft sind. Es gibt viele Genies, die in bestimmten Bereichen he­rausragend, aber emotional zurückgeblieben und damit nicht ­lebenstüchtig sind.

Brauchen Kinder Noten?
Darauf gibt es keine eindeutigen Antworten. Die einen sagen, Noten sind Mutmacher, Ansporn und ­Orientierungshilfe. Die anderen sind der Meinung, Noten würden Schüler zu willenlosen Auswendiglernmaschinen anleiten. Ich selbst plädiere für Noten plus zusätzliche Beurteilungsinstrumente – beispielsweise Potenzialanalysen.

Neue Technologien verändern die Welt rasend schnell. Müssen wir die Schulen ändern, damit unsere Kinder später bestehen können?
Die Schule hinkt der gesellschaftlichen Entwicklung stets hinterher. Wir wissen heute nicht, wofür wir unsere Kinder erziehen müssen. Wirtschaft und Politik fordern nun, dass Kinder programmieren lernen.

Und was fordern Sie?
Ich finde es wichtiger, ihnen zu zeigen, wie man sich rasch an neue Lebensumstände anpasst, wie man sich schnell neues Wissen aneignen kann, sie frustrationstolerant zu erziehen und mit einem guten Selbstbewusstsein auszurüsten. So können sie in zwanzig Jahren in einer Welt bestehen, von der jetzt noch niemand weiss, welche Fähigkeiten dann gefordert sein werden.

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