Das grosse Interview mit This Jenny
«Der Tod ist nichts als ewiger Schlaf»

Der Glarner alt Ständerat This Jenny hat Krebs. Wie er damit lebt. Was er über das Ende denkt. Und wie die Krankheit die Liebe verändert.
Publiziert: 20.04.2014 um 00:15 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 19:13 Uhr
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Persönlich: This Jenny wird am 4. Mai 62 Jahre alt. Er kam in Glarus zur Welt, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, lernte Maurer – und arbeitete sich zum diplomierten Baumeister hoch. Heute ist er Inhaber der Hoch- und Tiefbau-Firma Toneatti & Co. in Bilten GL. 1998 wurde er für die SVP in den Ständerat gewählt. Nach der Krebs-Diagnose trat er am 13. Februar 2014 zurück. Jenny ist geschieden und Vater zweier Kinder. Er lebt in einer Partnerschaft mit Ursula Abgottspon.
Foto: Sabine Wunderlin
Interview: Peter Hossli und Walter Hauser; Fotos: Sabine Wunderlin

SonntagsBlick: Herr Jenny, heute ist Ostern, Tag der Auferstehung. Glauben Sie an eine Zeit nach dem Leben?
This Jenny:
Nein. Ich gönne es aber jedem, der das tut. Für mich ist der Tod nichts als ewiger Schlaf.

Sie haben Magenkrebs. Wie viel Zeit bleibt Ihnen noch?
Werde ich nicht operiert, ein Jahr.

Wovon hängt das ab?
Ob die Chemotherapie anspricht. Das ist bei 15 Prozent der Patienten der Fall. Seit letztem Mittwoch weiss ich: Bei mir hat sie angesprochen.

Das heisst, Sie werden operiert?
Nein, es besteht die Chance dazu. Am Dienstag weiss ich Bescheid. Dann spiegeln sie mir den Magen.

Wie gross sind diese Chancen?
Heute grösser als vor drei Wochen. Die Ärzte glaubten damals, dass es keine Operation geben werde.

Wie reagieren Sie auf diese positive Nachricht?
Natürlich bin ich froh und packe jeden Strohhalm. Gibt mir die Operation fünf oder sieben weitere Jahre, nehme ich sie. Ich lebe ja gerne. Es ist mir noch nicht verleidet.

Wie haben Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmt?
Die Brust drückte. Zuerst dachte ich, etwas stimme mit dem Herz nicht. Auf den Magen kam ich nicht, trotz Schluckbeschwerden. Dabei sind sie Zeichen für einen fortgeschrittenen Magentumor.

Männer verdrängen oft, wenn etwas nicht stimmt. Was taten Sie?
Nichts. Ich dachte, es wird wieder besser. Dabei merkte ich in der Dezember-Session: Äpfel gehen nicht mehr gleich gut runter. Es würgte mich, als ässe ich zu viele Marroni.

Wie lange zögerten Sie den Arztbesuch heraus?
Drei Monate! Ich habe drei Monate zu lange gewartet. Heute empfehle ich jedem: Wer eine Veränderung des Körpers spürt, soll das ernst nehmen.

Was dachten Sie, als der Arzt die Diagnose Krebs stellte?
Ich sagte: «Ja, super!» Die Diagnose war miserabel. Meine erste Frage war: «Ein oder zwei Jahre?» Der Arzt sagte: «Ich weiss es nicht.» Da war mir klar: Das ist schlimm.

Und was dachten Sie dabei?
Man zieht mir einen Riesenhammer über den Kopf. Mit allem habe ich gerechnet. Damit sicher nicht.

Dann brachen Sie zusammen?
Nein, zusammengebrochen bin ich nie. Ich habe gewusst: Jetzt muss ich die Zukunft des Geschäfts und alles Private regeln. Seit ich weiss, dass es Kindern und Geschäft gut gehen wird, bin ich gelassen.

Geschäft und Kinder kamen vor der eigenen Person?
Das lässt sich ja regeln. Bei meiner Gesundheit bin ich machtlos.

Wie sieht die Regelung aus?
Die Kinder werden ordentlich berücksichtigt, dazu das Gottenkind und Freunde. Bei einem Herzinfarkt wäre das nicht möglich gewesen.

Vor dem Krebs hatten Sie kein Testament?
Nur für das Geschäft. Das Private regelte ich erst nach der Diagnose.

Hat der Krebs Ihr Verhältnis zum Tod verändert?
Alle wissen, dass sie gehen müssen. Keiner geht gerne. Ich kann den Tod annehmen – und zwar besser als mein Umfeld. Lange hielt ich es ja für unmöglich, im Wissen bald zu sterben das Leben zu geniessen. Heute weiss ich: Das geht schon.

Haben Sie Angst vor dem Tod?
Nein. Vielleicht sieht es in einem Monat aber ganz anders aus.

Liefern Sie sich dem Tod aus?
Auf die letzten vier Wochen meines Lebens werde ich verzichten. Wenn alle wissen, dass ich sterbe, alle nur noch um mich weinen, gehe ich.

Wie denn?
Wenn es Zeit ist, nehme ich den Cocktail. Ich gehe mit Sterbehilfe.

Sie haben sich angemeldet?
Ja, ich gehe zu Exit. Jetzt hoffe ich einfach, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen. Ich muss merken, dass es sich nur noch um Wochen handelt – und ich muss in der Lage sein, den Cocktail zu nehmen.

Was denken Ihre Angehörigen?
In dieser Situation darf man nicht auf Angehörige hören. Ich habe ein Leben lang für andere geschaut, da lasse ich jetzt nicht mit mir diskutieren.

Wer soll Sie dabei begleiten?
Das ist noch nicht entschieden. Ich bezweifle, dass meine Lebenspartnerin oder meine Kinder die richtigen sind, auch nicht meine Ex-Frau. Natürlich hätte ich sie gerne dabei, aber die verkraften das nicht.

Für Ihr Umfeld ist die Krankheit schwieriger als für Sie?
Ja, die haben die grössten Probleme, meine Ex-Frau eingeschlossen.

Was tun Sie, um es ihnen zu erleichtern?
Mit meinem Sohn war ich eben drei Tage Skifahren in Zermatt. Über Krebs sprachen wir kaum. Wer sich schwertut mit meiner Krankheit, dem oder der sage ich: «Jetzt hört auf zu weinen. Ich lebe noch, mir ist es wohl. Mein Leben war gut.»

Es heisst, es gebe keine Atheisten im Schützengraben. Wie verändert der Krebs Ihren Glauben?
Überhaupt nicht. Ich glaube nicht an Gott. Aber ich akzeptiere alle, die bei Gott Halt finden.

Wo finden Sie Ihren Halt?
In der Realität. Bei mir gibt es nur Schwarz und Weiss. Alles andere nützt doch nichts.

Was steht auf Ihrer Liste der Dinge, die Sie noch tun wollen?
Es gibt keine Liste. Jeden Tag mache ich, was mir Freude bereitet.

Wie viel Zeit geben Ihnen die Ärzte heute noch?
Ohne Operation leben nach 18 Monaten nur wenige. Mit Operation leben nach fünf Jahren fünf Prozent. Die Statistik nützt mir aber nichts. Wenn 99 Prozent überleben, und ich gehöre zu den anderen ein Prozent, ist das schlecht. Auf die Chemo sprechen 15 Prozent an. Da gehörte ich dazu. Zum Glück.

Jetzt hoffen Sie, dass man Ihnen schnell den Magen rausnimmt?
Ja, das wäre eine grosse Erleichterung, obwohl es ein Rieseneingriff wäre. Hätte mir letztes Jahr einer gesagt, er hole mir sofort den Magen raus, hätte ich ihn umgebracht.

Achtzehn Monate bis fünf Jahre. Was bedeutet Ihnen diese Frist?
Es ist erstaunlich, wie gelassen ich mit ihr umgehe. Ich gehe ja nicht jeden Tag mit geschwollenem Genick durch die Welt, sondern geniesse die Tage, die mir noch bleiben.

Sie haben sehr gesund gelebt …
... ich habe nicht geraucht und keinen Alkohol getrunken …

… wen oder was machen Sie verantwortlich für den Krebs?
Vielleicht war ich zu ehrgeizig in jungen Jahren.

Sie haben zu viel gearbeitet?
Zu viel nicht, aber nicht gelassen. Ich hatte als Erster ein Natel. Es gab kein Mittagessen ohne sieben Telefongespräche. Nie liess ich etwas im Raum stehen, erledigte alles sofort, sogar mitten in der Nacht.

Mögen Sie Glarner Chämisalami?
Sehr, und auch Trockenfleisch. Davon habe ich zu viel gegessen.

Krebszellen mögen Pökelfleisch.
Ja, und Zucker auch. Süsses und Gepökeltes haben dem Magen nicht gutgetan, das ist mir heute klar.

Nun stellen Sie die Ernährung um?
Noch futtere ich wie ein junger Hund, esse noch immer gleich. Das kann sich ändern, wenn ich keinen Magen mehr habe.

Krebs wird oft vererbt. Haben Sie eine Veranlagung?
Meine Schwester hatte vor siebzehn Jahren etwas Ähnliches. Ich hätte mich mit 60 untersuchen lassen sollen. Doch das habe ich verdrängt. Das ist der einzige Vorwurf, den ich mir heute mache.

Sie liessen sich nie untersuchen?
Doch – im Darm, an der Prostata, auf der Haut. Aber nicht dort, wo ich genetisch ein Problem habe. Das war ein kapitaler Fehler.

Welche ungeklärten Fragen haben Sie noch ans Leben?
Seit alles geregelt ist, bin ich gelassen. Ich habe viel erlebt, viel gemacht. Jetzt lehne ich mich zurück.

Gibt es Menschen, bei denen Sie sich noch entschuldigen wollen?
Das habe ich bereits getan. Mit meiner Ex-Frau habe ich ein gutes Verhältnis. Bei ihr gehe ich ein und aus. Meine Scheidung war ja in zwei Monaten durch, ohne böse Worte. Ich habe nie etwas lange mit mir herumgetragen, sondern immer alles sofort erledigt.

Es heisst, eine Krebsdiagnose verändere Werte. Bei Ihnen?
Mein wichtigster Wert ist noch stärker geworden: nicht alles ernst zu nehmen. Es lohnt sich nicht, sich mit Kleinigkeiten herumzuschlagen. Gesundheit ist das Wichtigste.

Wer ist heute Ihre wichtigste Bezugsperson?
Es sind mehrere Personen: Meine Lebenspartnerin und meine Kinder. Aber auch meine Ex-Frau und die Schwiegermutter sind mir nah.

Was macht Krebs mit der Liebe?
Für meine Partnerin ist die Welt zerbrochen. Sie ist nicht mehr die gleiche Person. Ihr helles Lachen und ihre Fröhlichkeit sind weg.

Wie reagieren Sie darauf?
Ich werde schon mal ernst und sage: «Es kann ja nicht sein, dass ich dich aufstellen muss, Gopfer-delli, was ist da überhaupt los? Du hast noch ein Leben. Klar bist du in Trauer, aber mein Leben ist fertig, ich kann ja nichts mehr steuern.»

Brauchen Sie mehr Zeit für sich?
Nicht unbedingt. Ich will einfach nicht bemitleidet werden.

Sie trennten sich von Ihrer Frau. Wo steht diese Beziehung jetzt?
Sie ist um mich besorgt, als seien wir nicht geschieden. Sie leidet mit mir, sie schaut zu mir. Ich ­sorge dafür, dass es ihr gut geht, bis sie 100 ist.

Denken Sie über den Tod hinaus?
Meine Beerdigung habe ich geplant. Es steht bereits fest, wer redet. Ich will doch keine Heuchler, die nicht meine Linie vertreten.

Wer spricht an der Beerdigung von This Jenny?
Das sage ich hier nicht. Zumal der oder die es selbst noch nicht weiss.

Wo findet das Begräbnis statt?
In Glarus in der Kirche …

… obwohl Sie nicht glauben?
Es gibt ja nichts anderes.

Lassen Sie sich kremieren?
Das ist noch nicht geregelt, aber ich gehe mal davon aus.

Steht die Gästeliste?
Es darf kommen, wer will. Es wird ein Essen geben, bei dem alle satt werden. An meiner Beerdigung sollen es einfach alle lustig haben.

Sie fahren häufig Ski. Wie gut geht das noch?
Letzte Woche konnte ich in Zermatt problemlos einen Tag lang auf 3000 Meter fahren. In den Fitnessraum gehe ich seltener, deshalb habe ich vier Kilo Muskeln verloren. Meine Leistung ist um 30 Prozent zurückgegangen.

Was tut Ihnen gut?
Ski fahren, frische Luft, gutes Essen.

Was bereuen Sie?
Dass ich nie ins Ausland ging und keine Sprachen lernte. Mit 20 war ich Maurer und dachte, der Jenny müsse rasch aufsteigen. Der sei so wichtig, dass er nicht ein Jahr aussetzen kann. Das war ein Fehler.

Schlimmeres gibt es nicht?
Nein, ich würde rückblickend alles gleich machen. Mir ist vierzig Jahre lang alles gelungen. Seit vier Jahren denke ich aber: Irgendwann passiert was. Und jetzt habe ich Krebs. Das ist ein Sch…dreck.

Haben Sie Schmerzen?
Als ich erstmals zum Arzt ging, waren die Schmerzen noch erträglich. Eine Woche vor der ersten Chemotherapie hielt ich sie kaum aus.

Und gerade jetzt?
Seit drei, vier Wochen habe ich keine Schmerzen mehr, deshalb denke ich ja, die Chemo hat angeschlagen. Die Ärzte haben es aber relativiert. Das muss gar nichts heissen.

Haben Sie Metastasen?
Es gab einen frei schwebenden Körper, der den Ärzten Sorgen bereitete. Der war zum Glück im oberen Teil des Magens. Wäre er im unteren Teil gewesen, hätten sie sofort gesagt: Operation vergessen.

Dieser Fremdkörper ist nun weg?
So viel ich gehört habe: ja. Das bedeutet, dass die Chemo bei mir super angesprochen hat. Aber wir warten mal den Dienstag ab.

Sie haben noch alle Haare.
An der Brust und den Brauen sind sie mir ausgegangen.

Werden Sie eine Perücke tragen?
Sie ist schon bestellt, das hat mich 3000 Franken gekostet.

Warum haben Sie noch Haare?
Weil ich bei der Chemotherapie jeweils eine Eishaube trug. Das hilft.

Wie haben Sie sich informiert über den Krebs?
Ich habe sofort alles gegoogelt. Zudem habe ich viele Anrufe und Briefe von Menschen erhalten, die Magentumore überlebten. Allerdings konnten nur jene schreiben und telefonieren, die noch leben.

Haben Sie Heilungschancen?
Sie liegen bei fünf Prozent.

Das ist eine geringe Zahl.
Ja, sie ist klein. Aber ich gehöre ja zu den 15 Prozent, bei denen die Chemotherapie anspricht.

Wie gross ist die Hoffnung, zu den fünf Prozent zu gehören?
Nach der Operation kann ich mehr sagen. Vielleicht läuft sie hervorragend, die Prognose ist gut – und ein Jahr später bin ich tot. Bei einem bösartigen Krebs ist alles möglich.

Es trifft einen wie Sie, der ein Leben lang vor Kraft gestrotzt hat. Hadern Sie mit dem Schicksal?
Freude habe ich keine am Krebs. Gesünder als ich hat im Parlament keiner gelebt. Das ist eine Tatsache.

Wer erkrankt an Magenkrebs?
Trinker, Raucher, Dicke und jene über 70. Gehöre ich dazu? Nein! Nur ein paar Hundert in der Schweiz erkranken daran. Dass ausgerechnet ich es habe, stinkt mir schon.

Warum traten Sie nur zwei Tage nach der Diagnose aus dem Ständerat zurück?
Weil ich nicht der Nabel der Welt bin und nicht im Amt sterben wollte. Da ich nicht mehr voll arbeiten kann, wollte ich den Parlamentarier-Lohn nicht mehr. Zudem fahre ich lieber in Zermatt Ski als in Bern in Sitzungszimmern zu sitzen.

Sie sagten einst, Sie würden sich in Bern nicht zu Tode krampfen. Haben Sie sich etwa geirrt?
Nein. Familienväter oder alleinerziehende Mütter haben viel grössere Belastungen als Parlamentarier. Sie können arbeiten, müssen aber nicht.

Sie sind nicht mehr in Bern. Was vermissen Sie an der Politik?
Nicht viel. Es gibt andere, die das besser oder mindestens so gut machen wie ich. Ich habe viele brillante Parlamentarier erlebt, bei denen man meinte, sie würden fehlen. Als sie weg waren, passierte nichts.

Der Jenny fehlt nicht?
Nein, der Jenny fehlt niemandem. Höchstens einem Journalisten, der eine provokative Aussage sucht.

Warum wurden Sie nie Bundesrat?
Man muss neben Deutsch Französisch und Englisch können. Das beherrsche ich zu wenig.

Sie waren der unabhängigste SVP-Politiker. Warum liess die Spitze sie gewähren?
Es hätte nicht viel gebracht, sich mit mir anzulegen. Mich zu bändigen, wäre unmöglich gewesen. Zudem hatte ich gesamtschweizerisch einen riesigen Rückhalt.

Wie soll man sich an This Jenny erinnern?
Das müssen andere sagen. Da lege ich keinen Wert darauf.

Wirklich nicht?
Dass ich ein unabhängiger Geist war, und einer, der mit Spass und viel Humor politisiert hat.

Welchen Wunsch bleibt Ihnen?
Noch ein paar Jahre zu leben.

Letzte Frage: Wie geht es Ihnen?
Wenn ich meine Perspektive ausblende, geht es mir sehr gut. Aber selbst wenn ich die Perspektive einbeziehe, geht es mir besser, als ich es mir je hätte vorstellen können in dieser Situation.

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