Essen ist Kopfsache. Mit 439 Menüs rechnet Franco Trivelli (36) heute. 40 Grillgüggeli, 90 vegetarische Bowls, 299 Portionen Hörnliauflauf. Warum 299? «Meine Mitarbeiter sollen ihre Hirnzellen anstrengen müssen, wenn sie die Mengen der Zutaten ausrechnen», sagt Trivelli und lacht.
Von seiner Schätzung hängt alles ab. Ob die Gäste satt werden. Ob sie wiederkommen. Ob das Restaurant schwarze Zahlen schreibt. Ob am Ende mehr Essen in der Tonne als auf dem Teller landet.
Portionen müssen stimmen
Es ist Mittwochmorgen, 11 Uhr. Letzte Teambesprechung in der Viva-Kantine in Uzwil SG. In 30 Minuten kommen die ersten Gäste. Hungrig. Die Mitarbeiter versammeln sich. «Eine Kelle Reis pro Teller? Oder eineinhalb?», fragt die Küchenkraft nun schon zum zweiten Mal. Sie muss heute das vegetarische Menü schöpfen: Pouletstreifen aus pflanzlichen Proteinen des Jungunternehmens Planted, Satay-Sauce, Reis. «Koriander obendrauf?»
Chef Trivelli lehnt am Tresen. Gelassen nickt er seiner Mitarbeiterin zu, verspricht: «Ich schöpfe dir nachher den ersten Teller.» Die Runde verstummt. Keine Fragen mehr. Ran an die Arbeit!
Gäste mögen, was an Mamas Küche erinnert
Sechs Küchenangestellte werden den Mittag heute bestreiten. Zwei in der Küche. Je einer am Vegi-Tresen und am Güggeligrill. Zwei beim Hörnligratin. «Der wird heute am besten laufen», sagt Trivelli. «Erfahrungsgemäss mögen unsere Gäste traditionelle Gerichte. Solche, die sie an die Kindheit erinnern, an Mamas Küche.»
Essen ist Erfahrung. Die Viva-Kantine hat über hundert Jahre davon. Sie ist das älteste Mitarbeiterrestaurant der Schweiz, hat Krieg und Wandel erlebt. Damals 1918, nach der Eröffnung, sassen die Arbeiter hier zusammengepfercht an langen Holztischen. Ihnen wurde noch serviert.
Die damaligen Gäste waren Angestellte der Maschinenfabrik Bühler Group und die ersten, die den Luxus eines eigenen Restaurants genossen. Aus der ersten Kantine entstand schliesslich die SV Group, eine der grössten Gastronomiefirmen in der Schweiz.
Bessere Geräte, weniger Angestellte
Heute ist vom Alten wenig übrig. Vergangenes Jahr wurde das Restaurant komplett renoviert. Einige Schwarz-Weiss-Fotos an den Wänden erinnern die Gäste noch an frühere Zeiten. Das einst 20-köpfige Küchenteam ist bis auf acht Personen geschrumpft. Manchmal, wie heute, reichen auch sechs Leute. Bessere Küchengeräte lösten in den letzten Jahrzehnten einen Angestellten nach dem anderen ab.
11.30 Uhr, die ersten Gäste strömen herein. Marcello Bonafiglia (52) schnappt sich ein Tablett, läuft zum Vegi-Tresen. Sind es jetzt ein oder eineinhalb Kellen Reis? Die Mitarbeiterin schöpft zwei. «En Guete!», sagt sie. Heute wohl noch hundert Mal.
Bargeld nimmt die Kassiererin nicht. Bezahlt wird mit Karte oder Handy. Das sei effizienter, erklärt Chef Trivelli. Tatsächlich kassiert nur eine einzige Mitarbeiterin die über 400 Mittagsmenüs ein. Bonafiglia grüsst sie mit Namen. Er isst jeden Tag hier. Seit zehn Jahren. Verleiden tue es ihm nie.
Mittagessen im Stress
Essen ist Geschmack. Bonafiglia spiesst den Broccoli auf. Gemüse sei ihm wichtig. «Aber Risotto mag ich am liebsten.»
Der Saal füllt sich. Am Fenster sitzen vier Mitarbeiter einer Treppenbaufirma aus Uzwil. Sie sind in Eile, schlingen Hörnli mit Appenzeller Käse runter. «Wir haben nur kurz Mittagspause. Dieses Menü füllt rasch den Magen.»
Essen ist Gemeinschaft. Das Besteck klirrt auf den Tellern. Menschen murmeln durcheinander. In der Kantine nehmen die Gäste Abstand von der Arbeit. Sprechen über Privates. «Wenn ich mit Kollegen in der Kantine bin, kann ich ein Weilchen abschalten», sagt Export-Fachfrau Sonja (47).
Vegi-Gericht aus dem Tiefkühler
Wie wichtig das ist, hat die Bühler AG früh erkannt. 1918 entschied man sich unter anderem für die Kantine, weil die Lebensmittelversorgung damals sehr prekär war. Die Mitarbeiter hatten kaum Verpflegungsmöglichkeiten – waren unzufrieden.
«Vegi ist leer!», ruft die Angestellte an der Ausgabe. Jetzt muss es schnell gehen. Küchenchef Oertli schiebt ein Blech mit gefüllten Pfannkuchen aus dem Tiefkühler in den Ofen. Der «Plan B» ist innert Minuten fertig.
Essen ist Einstellungssache. Tiefkühlkost ist hier eigentlich tabu. Nur frische Gerichte werden den hohen Ansprüchen gerecht. «Heute legen die Gäste Wert auf saisonale und regionale Zutaten», sagt Trivelli. Pro Teller gibt er etwa vier Franken für die Zutaten aus. Gekocht kostet das Menü für Bühler-Mitarbeiter 7.50 Franken. Für auswärtige Gäste 10.80 Franken. Nur das Güggeli ist an diesem Mittwoch teurer: 14.90 Franken. Dafür ist es ein Schweizer Bio-Poulet.
«Ich verschätze mich nie so stark»
Während die letzten Gäste tropfenweise eintrudeln, schrubbt Daniel Tinner die leeren Metallbehälter. Vorspülen. Die Abwaschmaschine rauscht ununterbrochen.
14 Uhr. An den Tresen räumen die Mitarbeiter die Essensreste weg. Die Kantine schliesst. Franco Trivelli trommelt seine Leute zusammen. «Abrechnung!»
38 Güggeli hat das Team verkauft. Zwei bleiben übrig. 299 Gäste bestellten Hörnliauflauf. Punktlandung. 116 wollten das Vegi-Reisgericht. 26 Portionen fehlten. Hätte man doch nur eineinhalb Kellen Reis schöpfen sollen? Trivelli lacht. «Eigentlich verschätze ich mich nie so stark.» Er notiert die Differenzen auf der Abrechnung. Essen ist Kopfsache.
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