Vergangenen Sonntag auf dem Friedhof von Spreitenbach AG: Etwa 200 Menschen haben sich an diesem trüb-regnerischen Nachmittag um ein frisches, mit vielen Blumen geschmücktes Grab versammelt. Ein armenischer Priester singt ein Gebet zum Gedenken an die Verstorbene. Gemäss armenischem Glauben wandert die Seele der Toten 40 Tage umher, bevor sie in den Himmel aufsteigt. Das ist heute. Am 28. August hat sich Céline P.* (†13) aus Spreitenbach das Leben genommen.
Die Schülerin, das fanden ihre Eltern erst später heraus, wurde massiv gemobbt. Die Protokolle des Mobbings gegen Céline hat die Familie vor einer Woche der Polizei übergeben. Im Netz kursierten Drohvideos. Zu sehen ist I. F.* (17) aus dem Nachbardorf Dietikon ZH. Die Jugendliche beschimpft ein anderes Mädchen, droht ihm, so zu sterben wie Céline. SonntagsBlick weiss allerdings: I. ist nicht die alleinige Täterin des tödlichen Mobbings gegen Céline. Gedreht hat die Videos ein Junge aus Dietikon. Im Gegensatz zu I. blieb der mutmassliche Mittäter bisher von der öffentlichen Empörungswelle verschont. Diese traf in den letzten Wochen I. umso härter: «Diin Körper isch genauso hässlich wie diin Charakter», schreiben etwa Jugendliche auf dem öffentlichen Frageportal Ask.fm an die Adresse von I.
Nach Célines Tod muss sich I. vor der Justiz verantworten
Die Angriffe, denen auch Céline ausgesetzt war, kursierten im Netz. Gegen die Beschimpfungen gewehrt hat sich niemand, im Gegenteil. Viele drückten perfiderweise auch noch den Like-Knopf und signalisierten so, dass ihnen die Hassbotschaft gefällt. Nur einmal, etwa 20 Tage vor dem Suizid, fragt ein Mädchen an die Adresse der Mobberin: «Hesh du mit celine stritt oder ish das spass?»
Nach Célines Tod muss sich I. vor der Justiz verantworten. Sarah Reimann von der Oberjugendanwaltschaft Zürich bestätigt, dass eine Strafuntersuchung gegen eine Jugendliche geführt wird – «es laufen aber weitere polizeiliche Ermittlungen», so Reimann.
Immer mehr Jugendliche werden in den sozialen Medien gemobbt. Sie werden ausgegrenzt, beschimpft und bedroht. Die Zahl junger Menschen, die wegen Suizidgedanken bei der Notrufnummer 147 von Pro Juventute anrufen, hat einen erschreckenden Höchststand erreicht: In den ersten sieben Monaten dieses Jahres sind 579 Kinder und Jugendliche an die Beratungsstelle gelangt. Durchschnittlich zwei Mal pro Tag meldet sich ein Kind oder ein junger Erwachsener, der von Suizidgedanken geplagt wird. Im Jahr zuvor waren es insgesamt 694 Telefonberatungen. Tatsächlich das Leben genommen haben sich 2016 110 Jugendliche, 31 von ihnen waren noch keine 19 Jahre alt.
Die Zürcher Nationalrätin Maja Ingold (69, EVP) leitete acht Jahre lang das Winterthurer Sozialdepartement. Dort sah sie, wie wenig Mittel in der Schweiz zur Suizidprävention vorhanden und wie verzettelt die Angebote sind. Sie reichte deshalb 2011 im Parlament einen Vorstoss zur Erarbeitung einer nationalen Suizidprävention ein. Der Antrag kam durch, der Aktionsplan des Bundes liegt inzwischen vor. Auch Nationalrätin Ingold hat vom Fall Céline gehört. «Wenn sich so junge Menschen das Leben nehmen, ist man immer sehr betroffen – denn eigentlich haben wir dann immer als Gesellschaft versagt», sagt sie. Der Aktionsplan zur Suizidprävention stösst bei der Politikerin auf Kritik. Es stünden viel zu wenig Mittel zur Prävention zur Verfügung. Ausserdem fehle ein Fokus auf Kinder und Jugendliche.
Der Kinderrechtsausschuss der Uno rügt die Schweiz
Tatsächlich rügte der Kinderrechtsausschuss der Uno, der alle Länder regelmässig auf ihre Bemühungen zum Kindeswohl hin durchleuchtet, die Schweiz wegen ihrer verhältnismässig hohen Zahl an Suiziden. In Sachen Suizidprävention bestehe in der Schweiz riesiger Nachholbedarf, sagt auch der Kinder- und Jugendpsychiater Urs Kiener (59). Der Grund: Bis vor ein paar Jahren war der Selbstmord ein Tabuthema – niemand sprach öffentlich darüber. Stiftungen und Vereine füllten das Präventions-Vakuum. Doch entpuppt sich dies jetzt als Nachteil, wie Sophie Lochet (31) von Stopp Suicide sagt: «Jugendliche mit Suizidgedanken können sich in diesem Präventions-Wirrwarr schnell verlieren.»
Lochet verweist auf Länder wie Kanada oder Finnland, die zentrale Anlaufstellen betreiben. «Besonders in den Schulen wird dort sehr viel mehr Prävention geleistet», so Lochet.
Dem hält das für die Suizidprävention verantwortliche Bundesamt für Gesundheit (BAG) entgegen, dass die Suizidprävention eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei. «Der Aktionsplan liefert einen gemeinsamen Orientierungs- und Handlungsrahmen», erklärt Daniel Dauwald vom Bundesamt. Für diese Koordinationsaufgabe stehen dem BAG pro Jahr rund 100000 Franken zur Verfügung – viel zu wenig, kritisieren Experten.
*Namen der Redaktion bekannt
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