Der Situationsbericht des Bundes lässt keinen Zweifel: Die Lage ist ausser Kontrolle. «Aufgrund des starken Anstiegs der Fallzahlen haben viele Kantone, Spitäler und Labors zurzeit Schwierigkeiten bei der raschen Untersuchung von Verdachtsfällen sowie Verzögerungen bei der Meldung», heisst es – in einer Fussnote.
Zudem sei das Bundesamt für Gesundheit (BAG) mit der Erfassung klinischer Befunde im Rückstand. Von Blindflug zu sprechen, wäre übertrieben. Wahr ist: Die Zahlen des Bundes sind jeweils mehrere Tage alt.
Entsprechend ist die Situation – auch unter Berücksichtigung einer hohen Dunkelziffer – weit dramatischer, als es die Erhebungen des BAG vermuten lassen.
Hohe Ansteckungsrate in der Schweiz
Das verfügbare Datenmaterial spiegelt einen eindeutigen Trend: Am Freitag registrierte das BAG 9207 gemeldete Infektionen mit dem Coronavirus – bei einer Positivitätsrate von mehr 25 Prozent. Damit nimmt die Schweiz weltweit eine Spitzenposition ein. Nur in Georgien und Slowenien verdoppeln sich die gemeldeten Fälle schneller.
Dabei sind grosse Unterschiede zwischen den Kantonen zu beobachten. Sehr hohe Fallzahlen weisen derzeit die Kantone Waadt, Genf, Zürich, Wallis und Bern auf. Dort bewegt sich der Sieben-Tage-Schnitt zwischen 600 und knapp 1000 Fällen täglich.
Nicht weniger alarmierend ist die Zahl der Hospitalisationen. Auch dort sind erhebliche Unterschiede festzustellen; vor allem im Verhältnis zur Bettenkapazität in den jeweiligen Regionen. Im Kanton Zürich waren am Freitag gemäss Zahlen der Schweizer Armee 234 Covid-19-Patienten hospitalisiert – in zwei Wochen rechnet man bereits mit 800.
Intensivbetten werden knapp
Im bevölkerungsreichsten Kanton stehen insgesamt 328 zertifizierte Intensivpflegebetten (IPS) zur Verfügung. Davon waren am Freitag 215 belegt, 32 von Covid-Patienten. Die Zürcher Spitäler betonten am Freitag an einer Pressekonferenz, sie hätten die Situation im Griff. Noch!
Anders im Kanton Solothurn: Aufgrund der steigenden Hospitalisierungen erhöht man dort die Zahl der Intensivbetten. Statt aktuell 15 sollen in den kommenden Tagen 25 Intensivpflegeplätze mit Beatmungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.
Im Hinblick auf Intensivbetten stossen die Spitäler der Kantone Freiburg, Schwyz, Basel-Stadt, Aargau und Waadt demnächst ebenfalls an Kapazitätsgrenzen. Dort beträgt die Auslastung bereits über 80 Prozent. Geht es in diesem Tempo weiter, werden laut Corona-Taskforce des Bundes Mitte November alle Intensivepflegebetten belegt sein.
Behandlung hat sich verbessert
Ein kleiner Lichtblick: Corona-Patienten müssen heute weniger lang auf der Intensivstation betreut werden. Denn seit dem Frühjahr haben sich die Behandlungsmethoden verbessert. Auch deshalb reichen die Kapazitäten länger.
Insgesamt sind in der Schweiz 1095 Intensivpflegebetten in Betrieb. Laut BAG könnte die Kapazität auf maximal 1400 ausgebaut werden. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass genügend gesundes Pflegepersonal zur Verfügung steht.
Sabrina Greiner (35), die am Zürcher Unispital Corona-Patienten betreut, sagte vor drei Wochen im Gespräch mit SonntagsBlick: «Drei Sachen sind wichtig; genug Material, genug Personal, genug Räumlichkeiten.» All das stehe in Zürich ausreichend zur Verfügung.
Weiterarbeiten ohne Symptome?
Doch weil das längst nicht überall so ist, dürfen die Spitäler Personal aus der Quarantäne zurückrufen – selbst wenn sie positiv getestet wurden. So auch im Kanton Aargau. Am Mittwoch informierte Kantonsärztin Yvonne Hummel (50) ihre «Kolleginnen und Kollegen» über eine «Erleichterung bezüglich Quarantänemassnahmen für das medizinische Fachpersonal».
Im Wortlaut: «Die medizinische Fachperson kann ihre Arbeit fortsetzen, solange sie asymptomatisch ist.» Das neue Regime geht auf eine Empfehlung des Nationalen Zentrums für Infektionsprävention (Swissnoso) zurück. Das gilt nicht nur für Spitäler. Auch Heime, wo ebenfalls Personalmangel herrscht, dürfen bei Engpässen die Quarantäneregeln für ihr Personal lockern.
Sogar beim Unispital Zürich wurde eine positiv getestete Ärztin ans Spital beordert – «ausnahmsweise», wie Spitaldirektor Gregor Zünd (61) am Freitag an einer Pressekonferenz betonte.
Im Privaten wird die Quarantäne für das medizinische Fachpersonal nicht ausgesetzt. Dort gilt weiterhin: Einbunkern!