Ein Kind kommt zur Welt. Für immer weg ist bei Mutter und Vater die Gelassenheit; für immer da eine innere Unruhe. Und zu Beginn brennt die Frage: Lebt es noch?
Nachts kontrollieren viele Eltern, ob ihre Neugeborenes atmet. Weil sie fürchten, was die Wissenschaft nicht erklären kann: den plötzlichen Kindstod – wenn das Baby einschläft und nie mehr aufwacht.
51 Tage alt war der Sohn von Unternehmer Peter Spuhler (56) und seiner Frau Daniela (38). «Plötzlich und völlig unerwartet» sei er am Freitag «sanft entschlafen», schrieben die Eltern in der Todesanzeige.
Das sei eine der «grässlichsten Situationen, die Eltern erleben können», so Kinderarzt Rolf Temperli. Erlebt hat sie Corinna Lindemann (51) vor 15 Jahren. «Der Boden hat sich unter mir geöffnet, und ich bin gefallen.»
Es ist der 7. Februar 2000. Die Schriftenmalerin legt ihre acht Monate alte Tochter Melissa ins Bett, «ganz normal». Am nächsten Morgen nimmt sie die Kleine auf. Sie ist noch warm, aber sie regt sich nicht. «Sie war tot, niemand konnte mir sagen, warum.»
Sie rennt mit Melissa im Arm zum Nachbarn, versucht sie zu beleben. «An ihrem Gesichtsausdruck habe ich sofort gemerkt: es ist zu spät.»
Lindemann, die in Seengen AG wohnt, beschreibt Melissa als «aufgewecktes und gesundes Kind».Aber: «Jeder Mensch kommt als Kerze zur Welt, jene von Melissa brannte sehr rasch ab.»
Damals machte sie sich Vorwürfe, obwohl ihr niemand die Schuld gab. «Als Mutter fühlst du dich immer schuldig.» Ihr älterer Sohn habe kurz danach die Luft angehalten, um mit Melissa zu sein. «Es ging nicht.» Sie weint, wenn sie das erzählt. «Das eigene Kind zu verlieren ist das Schlimmste, das wünsche ich nicht mal ärgsten Feinden.»
Tröstlich sei: Melissa musste nicht leiden. «Sie schlief, bis sie auf der anderen Seite ankam.»
Es sei unmöglich, den plötzlichen Kindstod jemals zu verarbeiten, sagt die Mutter. «Man kann nur lernen, damit umzugehen.» Betroffenen Familien rät sie, darüber zu reden. «Tausendmal, egal mit wem, egal wo, egal, ob zuletzt alle weinen.»
Geholfen habe ihr Chiara. Sie kam zweieinhalb Jahre nach Melissas Tod zur Welt. «Die Ärzte rieten mir, nochmals ein Kind zu haben», sagt Lindemann. «Damit ich wieder ans Leben glaube, Vertrauen schöpfe.»
Sie sitzt in der Stube ihres Hauses, betrachtet mit Chiara (12) ein Album voller Fotos, die Melissa zeigen. Beim Spielen, beim Baden, an der Taufe. Auf einem Tisch steht eine Urne aus Ton. Sie hält Melissas Asche. Chiara hat den Tisch dekoriert. «Sie weiss alles über ihre Schwester, Chiara weiss, wie speziell sie ist.» Ihre Mutter hätte kein weiteres Kind gehabt. Sie lebt, weil ihre Schwester starb.
Lindemann ist geschieden, hat zwei Söhne aus erster Ehe. Sie war frisch verliebt und «so glücklich wie nie», als Melissa zur Welt kam. Ihr Tod zerstörte das Glück. «Seither kann ich das Glück kaum mehr annehmen.»
Alle Eltern fürchten den plötzlichen Kindstod. Betroffen sind immer weniger, so die Zahlen des Bundesamtes für Statistik. 1995 starben 38 Kinder daran, 2013 waren es noch fünf. Aber, sagt Kinderarzt Temperli, der plötzliche Kindstod «lässt sich auch mit allen Vorsichtsmassnahmen nicht zu 100 Prozent verhindern».
Zumal nicht klar ist, was ihn verursacht. Rauchen die Eltern im Beisein des Babys, steigt das Risiko. Zu früh geborene Babys sind eher betroffen. Ist die Mutter jünger als 20, nimmt die Gefahr zu. Oder wenn eine schwangere Frau raucht, trinkt, Drogen konsumiert. Betroffen sind zu leicht geborene Babys. Zuweilen kann das Gehirn die Atmung während des Schlafs nicht richtig kontrollieren. Erkältungen erhöhen das Risiko zusätzlich.
Ärzte raten dringend, Babys zum Einschlafen auf den Rücken zu legen. Bauch und Seitenlage seien gefährlich. Liegt ein Baby auf einer zu weichen Matratze, hat es in der Nacht zu heiss, steigt das Risiko ebenfalls. Zudem empfehlen die Ärzte den Eltern, nachts ihr Baby nicht ins Bett zu nehmen.