Ein unscheinbares Kaff im Aargau: In der verrauchten Beiz im Zentrum sitzen die Stammgäste beim Feierabendbier, am Dorfrand haben kleine Einfamilienhäuser ihren Platz im Grünen erobert. Die A1 ist in Hörweite. Peking 8000 Kilometer entfernt. Doch der Einfluss der chinesischen Regierung reicht bis hierher.
Andili Memetkerim (53), der uns in seinem Wohnzimmer empfängt, befindet sich im Würgegriff der kommunistischen Partei: «Jeden Abend, wenn ich nach Hause komme, möchte ich meinen Vater anrufen. Aber ich darf nicht, weil er dadurch ins Visier der Behörden geraten könnte.»
Memetkerim ist Uigure, Angehöriger eines Turkvolks, das im äussersten Westen Chinas zu Hause ist. Die Machthaber in Peking sehen es nicht gerne, wenn Uiguren Kontakt ins Ausland haben. Seit Jahrzehnten unterdrücken sie die muslimische Minderheit. In den letzten Monaten hat die Repression aber nie dagewesene Ausmasse angenommen.
Das Ziel: Die Auslöschung der uigurischen Kultur
Im August 2018 veröffentlichte die Uno einen Bericht, wonach in der Region bis zu einer Million Menschen willkürlich in Lager gesteckt worden sind. Ehemalige Insassen berichten von Folter, Gehirnwäsche und anderen Misshandlungen. Vor einer Woche machte die «New York Times» publik, dass die chinesischen Behörden auf künstliche Intelligenz und automatische Gesichtserkennung setzen, um die Uiguren zu überwachen. Das Ziel: Die Auslöschung der uigurischen Kultur.
Memetkerim fürchtet, dass auch sein Vater in einem Umerziehungslager gelandet ist. Gewissheit hat er nicht. «Ich weiss nicht einmal, ob mein Vater noch lebt.» Bis vor einem Jahr habe er einmal pro Woche mit ihm telefoniert. Doch dann habe ihn sein Vater plötzlich gebeten, nicht mehr anzurufen.Memetkerim steckt im Dilemma: «Rufe ich ihn an, um zu erfahren, wie es ihm geht, wird ihm womöglich genau dieser Anruf zum Verhängnis. Rufe ich nicht an, muss ich mit dieser Ungewissheit leben.»
Eine Reise durch die Konfliktregion
Dezember 2015: Ich bin seit sechs Monaten auf Weltreise und habe es per Autostopp von der Schweiz nach Zentralasien geschafft. In einem Lastwagen überquere ich den 3000 Meter hohen Irkeschtam-Pass, der von Kirgisistan in Richtung China führt.
Im Schneckentempo holpern wir über eine vereiste Strasse. Das Panorama ist spektakulär. Doch ich geniesse es nicht ganz unbeschwert: Die Provinz Xinjiang gilt als unsicher. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten weist hin auf das angespannte Verhältnis zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, warnt vor Ausschreitungen und Gewalttaten.
2009 kamen bei Unruhen in Xinjiang mehr als 200 Menschen ums Leben. 2014 gab es Anschläge von Uiguren, die mehrere Dutzend Todesopfer forderten. Westliche Journalisten sind hier noch weniger gerne gesehen als im restlichen China. Laut Visum bin ich deshalb Student.
Die chinesischen Grenzbeamten nehmen mich und mein Gepäck trotzdem unter die Lupe – an drei verschiedenen Checkpoints. Insbesondere meine Kamera stösst auf Interesse. Bild für Bild klicken sich die Polizisten durch meine Reise. Ihre Neugier scheint aber mehr voyeuristischer Natur zu sein. Sie lassen mich passieren. Mit einem offiziell verordneten Taxi gelange ich in das «Uigurisch Autonome Gebiet Xinjiang».
Die Tibeter werden überall wahrgenommen
Zurück im Wohnzimmer von Andili Memetkerim. Er nennt seine Heimatregion nicht Xinjiang, sondern Ostturkestan. Die Uiguren träumen von einem unabhängigen Staat. Doch China beansprucht das Gebiet seit 1949 für sich, also seit mittlerweile 70 Jahren.
Die Provinz Xinjiang, vierzigmal so gross wie die Schweiz, ist reich an Öl, Gas, Gold und Uran. Sie dient als wichtiger Korridor und Knotenpunkt der «neuen Seidenstrasse», mit der China seine wirtschaftliche Macht ausbauen will. Als Pufferzone zu Indien und Russland hat Xinjiang zudem auch militärstrategische Bedeutung – genau wie Tibet. Parallelen zu Tibet sind ohnehin unübersehbar. «Die Tibeter und wir teilen das gleiche Schicksal» sagt Memetkerim. Allerdings mit einem Unterschied: Die Repression gegen die Uiguren ist den Medien meist nur eine Randnotiz wert. Während der Freiheitskampf der Tibeter seit Jahrzehnten grosse Beachtung erfährt, scheint die systematische Unterdrückung der Uiguren die Weltöffentlichkeit kaum zu interessieren.
«Im Gegensatz zu uns haben die Tibeter eine anerkannte Exilregierung und mit dem Dalai Lama eine weltbekannte Führungsfigur. Das verleiht ihnen mehr Gewicht», erklärt Memetkerim. Doch mit dem sympathischen Lächeln des Dalai Lama alleine lässt sich die unterschiedliche Präsenz und Wahrnehmung kaum erklären. Eine grosse Rolle spielt auch die Religion der Uiguren. Die chinesische Regierung diskreditiert ihren Freiheitskampf bei jeder Gelegenheit als islamistischen Terror. Memetkerim: «Die Chinesen stellen die Uiguren bewusst als Muslime, als potenzielle islamistische Extremisten dar. Dadurch erhoffen sie sich im Westen mehr Nachsicht für ihre Repression.»
Erst Mitte März griff Peking wieder auf diese Argumentation zurück: Bei den kritisierten Camps handle es sich nicht um Umerziehungslager, sondern um «Bildungs- und Trainingszentren», die dem Kampf gegen mutmassliche Terroristen dienen sollen. Schliesslich stehe die Region Xinjiang «unter dem kombinierten Einfluss von Separatisten, religiösen Extremisten und Terroristen». Memetkerim macht diese Darstellung wütend: «Es werden auch Ärzte, Professoren, Lehrer, Künstler und Journalisten inhaftiert, die überhaupt nicht religiös sind.»
Diese Woche weilt Ueli Maurer mit einer Delegation von Finanz- und Wirtschaftsvertretern in China. Die Schweiz nimmt am «Belt and Road Forum» teil, wo Geschäfte entlang der Neuen Seidenstrasse besprochen werden sollen. Zudem ist der Schweizer Bundespräsident von Chinas Präsident Xi Jinping zu einem offiziellen Staatsbesuch eingeladen. Wird Maurer dabei die Überwachung und Repression der Uiguren thematisieren? Auf Anfrage schreibt sein Departement: «Neben bilateralen Themen stehen auch Themen von internationalem Interesse auf der Agenda. Dazu gehört die Menscherechtssituation in China.» Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten wiederum betont, dass die Schweiz die Berichte der Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte mit grosser Besorgnis zur Kenntnis genommen habe und die Schliessung der Umerziehungslager in Xinjiang empfehle.
Diese Woche weilt Ueli Maurer mit einer Delegation von Finanz- und Wirtschaftsvertretern in China. Die Schweiz nimmt am «Belt and Road Forum» teil, wo Geschäfte entlang der Neuen Seidenstrasse besprochen werden sollen. Zudem ist der Schweizer Bundespräsident von Chinas Präsident Xi Jinping zu einem offiziellen Staatsbesuch eingeladen. Wird Maurer dabei die Überwachung und Repression der Uiguren thematisieren? Auf Anfrage schreibt sein Departement: «Neben bilateralen Themen stehen auch Themen von internationalem Interesse auf der Agenda. Dazu gehört die Menscherechtssituation in China.» Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten wiederum betont, dass die Schweiz die Berichte der Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte mit grosser Besorgnis zur Kenntnis genommen habe und die Schliessung der Umerziehungslager in Xinjiang empfehle.
In Kaschgar sind die Uiguren noch in der Mehrheit
Kaschgar, einstiger Knotenpunkt der antiken Seidenstrasse und kulturelles Zentrum der Region. Die Männer tragen Pelzhüte, die Frauen farbige Kopftücher, die Kinder haben grosse, runde Knopfaugen. Hier sind die Uiguren gegenüber den Han-Chinesen unübersehbar in der Mehrheit. Noch. Denn im Rest Xinjiangs halten sich die beiden Volksgruppen wegen der beispiellosen Umsiedlungspolitik Pekings mittlerweile die Waage. Und das, obwohl in den 50er-Jahren nur etwa einer von zwanzig Einwohnern der Provinz Han-Chinese war.
Die öffentlichen Plätze präsentieren sich fest im Gewand der kommunistischen Partei. In fast jeder Stadt grüsst ein Abbild Mao Zedongs die Bewohner. In Kaschgar ist die Statue des «Grossen Vorsitzenden» besonders pompös. Als wolle man die Uiguren daran erinnern, wer hier das Sagen hat. Die Polizeibusse, die an jeder Ecke stehen, reichen dazu offenbar nicht aus. Han-Chinesen stechen in Kaschgar aber vor allem als Touristen ins Auge. In der Jugendherberge sind ein Belgier und ich die einzigen Europäer. Der grosse Rest sind junge Han-Chinesen aus anderen, Tausende Kilometer entfernten Regionen der Volksrepublik.
Mit drei von ihnen machen der Belgier und ich einen Stadtbummel. Dabei fallen uns immer wieder böse Blicke auf, die unsere chinesischen Reisebekanntschaften von den Uiguren ernten – ob beim Taxistand, im Park oder auf dem Basar.
Vier ältere Uiguren, von denen einer ein paar wenige Brocken Englisch spricht, geben uns deutlich zu verstehen: «Ihr zwei seid herzlich willkommen, aber die da (die Han-Chinesen) sollen verschwinden!» Die vier sitzen am Rande des Häufchens, das von Kaschgars Altstadt übrig geblieben ist. Wo einst traditionelle Lehm- und Ziegelhäuser, Moscheen, Wohn- und Prachtbauten im islamischen Stil gestanden haben, spielen nun Kinder in Ruinen. Die Regierung in Peking bezeichnet die Zerstörung des uigurischen Kulturguts als Modernisierung – und zumindest in den Köpfen der eigenen Klientel scheint diese Darstellung angekommen zu sein.
Am Abend nach der Stadtbesichtigung fragen der Belgier und ich unsere chinesischen Reisebekanntschaften, wie sie die bösen Blicke wahrgenommen hätten. Sie haben keine Ahnung, wovon wir sprechen. Von den Spannungen in der Region haben sie zwar gehört. Aber das sei das Werk von islamistischen Terroristen. Von chinesischer Unterdrückung wollen sie nichts wissen: «Dank uns haben sie doch wirtschaftlichen Fortschritt!», so der Tenor.
«Wir werden nie aufgeben», sagt Memetkerim
Im Aargau wird das Essen serviert. Es gibt Laghman, aus einem Teigstück gezogene Nudeln. Ein altes, uigurisches Gericht. Andili Memetkerim ist einer von 110 Uiguren in der Schweiz. «Die Kinder miteingerechnet», sagt er schmunzelnd. Man kennt sich, tauscht sich aus, trifft sich an Feiertagen. Abgesehen vom Essen erinnert im Hause Memetkerim aber nicht viel an die alte Heimat. Am Boden ein paar exotische Teppiche, an der Wand eine kleine Flagge der uigurischen Unabhängigkeitsbewegung. Das ist alles.
Seit mehr als zwanzig Jahren war Memetkerim nicht mehr in seiner Heimat. Damals arbeitete er als Redaktor für medizinische Lehrbücher in der Provinzhauptstadt Ürümqi. «Ins Visier der chinesischen Behörden geriet ich, weil ich mich weigerte, das Vorwort eines Buches nach ihrem Gusto umzuschreiben.» Er musste weg.
Über Istanbul und Zürich kam er in den Aargau. Hier fand der gelernte Humanmediziner ein neues Zuhause, baute eine Praxis für Akupunktur, Schröpf- und Kräutertherapie auf. Seine zwei Söhne im Primarschulalter sprechen perfekt Schweizerdeutsch. Nur die dunklen Haare und Augen lassen erahnen, dass sie Memetkerim und nicht Meier heissen. «Meine Frau und ich fühlen uns hier sehr wohl.»Auf die Frage, ob er noch Hoffnung habe auf eine Rückkehr und auf eine bessere Zukunft der Uiguren, gibt er keine klare Antwort. «Wir werden nie aufgeben. Aber man muss realistisch sein.»
Die grösste Chance für sein Volk sieht er darin, dass es innerhalb des chinesischen Riesenreiches zu Spannungen kommen könnte. «Wenn China innerlich zerbricht, könnte das den Uiguren und Tibetern neue Perspektiven eröffnen.» Bis es so weit ist, betrachtet er es als seine wichtigste Aufgabe, auf das Schicksal der Uiguren aufmerksam zu machen – etwa bei der Uno. «Immer, wenn mir das gelingt, gibt mir das Kraft», sagt er. Gefährdet er mit seinem Engagement nicht seine Familie in der Heimat? «Diese Frage hat mich früher stark beschäftigt. Mittlerweile bin ich aber überzeugt, dass es keinen grossen Unterschied macht, ob ich aktiv bin. Die Unterdrückung durch die chinesischen Besatzer betrifft mittlerweile sowieso fast alle.»
Ans Telefon wagt er sich trotzdem nicht. Von seiner Mutter konnte sich Andili Memetkerim nie verabschieden. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass es dafür auch bei seinem Vater zu spät ist.
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