Camille P.* (40) weint bittere Tränen, als sie mit Blick über ihre Geschichte spricht. Schuldgefühle quälen sie. Mit einem Taschentuch tupft sie sich die Wangen ab und schaut liebevoll auf die kleine Victoire (zehn Monate), die sie auf dem Arm hält. Das kleine Mädchen mit strahlend blauen Kulleraugen lacht währenddessen vergnügt und ahnt nichts von den Sorgen ihrer Mutter. «Ich weiss nicht, wie ich ihr das alles je erzählen soll. Ich habe solche Angst vor ihrer Reaktion», meint sie.
Das Mädchen kam letzten November zur Welt – sie war alles andere als ein Wunschkind. «Ich habe bis zum Schluss nicht gemerkt, dass ich schwanger bin. Man hat nichts gesehen, und ich hatte auch meine Regel immer», erzählt Camille P. «Eines Tages hatte ich Bauchschmerzen und bin auf die Toilette gegangen. Nach nicht mal einer Minute war sie plötzlich da.» Instinktiv habe sie das Baby bei der Sturzgeburt aufgefangen und es in die Arme genommen.
Schwangerschaft blieb unbemerkt
«Dann habe ich eine Schere gesucht, um die Nabelschnur durchzuschneiden. Ich hatte keine Ahnung, wie das geht und habe es dann einfach irgendwie gemacht», sagt sie aufgewühlt. Völlig im Schock habe sie auf dem Klo auch noch die Plazenta geboren und heruntergespült. «Zu diesem Zeitpunkt war für mich alles wie in einem Film. Ich konnte mir nicht erklären, woher dieses Kind auf einmal kommt», erinnert sie sich.
Jemanden anzurufen oder Hilfe zu holen, sei in diesem Moment nicht infrage gekommen – so gross sei ihre Scham gewesen, dass sie die Schwangerschaft nicht bemerkt hatte. Sie befürchtete auch, man würde sie für verrückt halten. «Ich habe dann versucht, Victoire zu stillen. Aber es kam keine Milch, und sie wollte nicht trinken», so die 40-Jährige weiter. «Also habe ich sie in Decken eingewickelt, in mein Bett gelegt und bin in den nächsten Laden gerannt, um dort Babymilch zu kaufen.»
Alles nur ein böser Traum?
Völlig überfordert und im Schock habe sie versucht, den ersten Tag mit dem Säugling zu meistern. «Ich habe viel geweint», führt sie aus. Verzweifelt habe sie versucht, einen Ausweg aus der Situation zu finden – immer in der Hoffnung, bald doch noch aus dem Albtraum aufzuwachen.
Rasch sei Camille P. klar geworden, dass sie der Mutterrolle in ihrer Situation und in ihrem Zustand nicht gewachsen war. Sie wollte ein besseres Leben für ihr Kind und es vor allem in Sicherheit wissen. «Ich habe im Internet dann das Babyfenster gefunden und dort anonym angerufen. Am Telefon hat man mich versucht zu überzeugen, dass ein Kind seine Mutter braucht und ich es doch versuchen solle», sagt sie mit tränenerstickter Stimme. Man habe ihr auch Hilfe angeboten, doch ihr Entscheid habe fest gestanden. «Am nächsten Morgen bin ich mit dem Auto zum nächsten Babyfenster gefahren und habe Victoire zusammen mit einem Brief ins Babyfenster gelegt.»
«Ich wollte sterben oder mich umbringen»
Der Gang dahin sei ihr alles andere als leicht gefallen. «Ich hatte grosse Angst. Ich wollte sterben oder mich umbringen», so Camille P. weinend. «Aber ich wollte mein Bébé in guten Händen wissen, und das war es bei mir nicht. Ich war nicht ich selbst und hätte mir in dem Moment alles zugetraut.» Nachdem sie das Neugeborene abgegeben habe, sei sie ganz normal zur Arbeit gegangen. Niemandem habe sie auch nur ein Wort gesagt.
Nach der Geburt war aber nichts mehr so, wie es einmal war. Die frischgebackene Mutter hatte Sehnsucht nach ihrem Kind und wollte wissen, wie es ihm erging. So rief sie regelmässig beim Babyfenster-Team anonym an. «Ich wollte meinen Namen nicht sagen, weil ich dachte, ich hätte etwas Verbotenes getan. Ich befürchtete, dass ich ins Gefängnis muss», so P. «Aber sie haben mir immer versichert, dass mir nichts passiere.»
Die Sehnsucht nach dem Baby
Schliesslich überwog die Sehnsucht und so wagte die 40-Jährige, den Behörden zu vertrauen. «Ich musste einen DNA-Test machen und etwa einen Monat auf das Resultat warten. Danach durfte ich Victoire in ihrer Pflegefamilie besuchen gehen», erzählt sie weiter. «Das erste Zusammentreffen war so schön und sehr emotional. Die Kleine hat gelacht, und ich habe sie in den Arm genommen.» Von da an besuchte sie ihr Baby regelmässig.
«Meine Familie, meine Freunde und auch der Vater wussten zu diesem Zeitpunkt noch von nichts. Ich habe dann eine enge Freundin eingeweiht, und sie hat die Nachricht überbracht, da ich es selbst nicht geschafft habe», erinnert sich die berufstätige Mutter und streichelt ihrem Kind sanft über den Kopf. «Der Vater lebt weit weg. Wir waren bis vier Monate vor der Geburt ein Paar.» Er sei zwar geschockt gewesen von der Neuigkeit, wolle Victoire aber dennoch gerne irgendwann kennen lernen.
«Sie ist der Sieg über mein Leben»
Mama und Tochter meistern derweil den Alltag allein. «Ich arbeite immer in der Nacht und meine pensionierte Nachbarin passt auf Victoire auf. So kann ich die Tage mit ihr verbringen», erklärt Camille P. im Gespräch mit Blick. Das sei zwar sehr stressig und anstrengend, jedoch wolle sie nun keine Sekunde mehr vom Leben ihres Babys verpassen. Schlimm genug die Schuldgefühle, die sie noch immer plagen.
Mit ihrem Gang an die Öffentlichkeit will sie anderen Müttern in Not Mut zusprechen und dem Babyfenster-Team für sein Engagement danken. Auch wenn auf das Zweiergespann wohl noch viele Hürden zukommen werden, bedeutet ihr Erstgeborenes für Camille P. die Welt – nie wieder will sie ohne Victoire leben: «Sie ist der Sieg über mein Leben, darum auch der Name.»
*Name geändert