Der Kanun, das mündlich überlieferte Gewohnheitsrecht der Albaner, regelte früher Land- und Erbstreitereien. Oder bestimmte Strafen etwa bei Diebstahl, weiblichem Ehebruch oder Mord. Bloss: Noch heute wird wegen Streitigkeiten um Land, Geld oder Schulden der Kanun angewendet. Manchmal reicht ein böses Wort über ein Mitglied einer Familie – schon ist die Ehre verletzt. Auch bei uns in der Schweiz wird immer wieder Blutrache ausgeübt.
Etwa im August 2019. Eine vierfache albanische Mutter (†34) aus Dietikon ZH bezahlt mit ihrem Leben dafür, dass sie sich von ihrem Ehemann getrennt hatte. Der Mann soll sie über Jahre geschlagen, misshandelt und massiv unter Druck gesetzt haben. Er ermordete seine Frau in ihrer eigenen Wohnung. Sie hatte Stich- und Schnittwunden am ganzen Körper. Der Mann war überzeugt: Die Frau hat kein Anrecht auf ein Leben ohne ihn.
Mann in Moschee erschossen
Oder 2014 der Moschee-Mörder von St. Gallen (damals 54). Er schiesst in einer Moschee von hinten auf einen am Boden betenden Mann (†51). Dieser bricht zusammen, sieben Kugeln im Körper. Er ist sofort tot. Der Bruder des Täters war Jahre zuvor in Walenstadt SG bei einem Streit zwischen drei albanischstämmigen Männern – dem Beschuldigten, dessen Bruder und dem späteren Opfer – erstochen worden. Der Getötete wurde zum Feind, weil er sich laut Anklage nie um die sogenannte Besa (Friedensgelöbnis nach dem Kanun) bemüht habe.
Schliesslich der Kosovare (damals 19), der 1997 in Gipf-Oberfrick AG aus Blutrache das Mitglied einer verfeindeten Familie erschiesst. Er reist in die Schweiz, um für den Tod seines Onkels nach den Regeln des Kanun Blutrache zu üben. Zusammen mit seinem Cousin spürt er in Gipf-Oberfrick ein Mitglied der verfeindeten Familie auf, tötet das Opfer mit 17 Pistolenschüssen, entstellt sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. Genau so, wie es dem zu rächenden Onkel ergangen war. Die kosovarischen Clans hatten sich in den 1980er-Jahren in ihrer Heimat wegen Kiesabbaurechten zerstritten.