BLICK-Reporter testete 3D-Brille, die einen an einen Tatort versetzt
Mit den Augen des Täters

Zwei Männer, einer hält eine Pistole, stehen sich feindselig gegenüber. BLICK-Gerichtsreporter Viktor Dammann (69) befindet sich gleich daneben. Doch keine Angst, es fliesst kein Blut – der Tatort ist bloss virtuell.
Publiziert: 11.08.2019 um 23:24 Uhr
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BLICK-Gerichtsreporter Viktor Dammann testet die virtuelle 3-D-Tatort-Brille. Auf dem Bildschirm ist die Tatortsituation ersichtlich (rote Figur mit Waffe, gelbe Figur symbolisiert das Opfer).
Foto: Philippe Rossier
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Viktor DammannReporter

Ich befinde mich in einem Raum des 3D-Zentrums Zürich, einer Kooperation des Zürcher Instituts für Rechtsmedizin (IRM-UZH) und des Forensischen Instituts der Kantons-und Stadtpolizei Zürich (FOR). Darin bilden Spezialisten Tatorte auf dem Computer nach. Mit einer sogenannten Virtual-Reality-Brille kann man sich später am Ort des Verbrechens «umsehen» und sogar in die Position eines mutmasslichen Täters oder Zeugen schlüpfen. Von den Zürcher Ermittlern wurde dies bereits bei vier Fällen eingesetzt. 

Genau dies möchte mir Ingenieur Till Sieberth (32), im Team des 3D-Zentrums, demonstrieren. Ich will mir schon das schwarze Brillenungetüm überstülpen, doch zuerst zeigt er mir einen kurzen Film: Die Handlung ist zu Ausbildungszwecken frei erfunden, doch er könnte durchaus der Wahrheit entsprechen.

Eine junge Frau wird Zeugin einer Bluttat 

Eine junge Frau telefoniert vor dem Fenster eines Cafés mit ihrem Freund. Im Lokal übergibt ein jüngerer Mann einem bulligen Typen Geldscheine. Offenbar zu wenig. Der Empfänger schreit, wo der Rest sei. Beide Männer erheben sich – dann fällt ein tödlicher Schuss.

Die telefonierende Frau ist eine wichtige Zeugin und wird befragt. Der bullige Typ habe geschossen, ist sie sich sicher. Doch stimmt das wirklich?

Mit der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin, die den Erschossenen später mit einem medizinischen Scanner untersucht, rückt auch das 3-D-Team an. Dabei wird der Tatort mit einem 3-D-Scanner digital erfasst. Anschliessend bildet IRM-Experte Lars Ebert (42) mit den erhobenen Daten den Tatort digital nach. Dabei darf kein Möbelstück oder ein zerbrochenes Glas fehlen. Alle Personen werden als neutrale, gesichtslose Attrappen dargestellt.

Ich teste die 3-D-Brille und erlebe, wie sich eine Zeugin täuscht

Der «Tote» kann digital wieder aufrecht stehen. Dabei ist auch die Schussverletzung, die anhand des Leichen-Scans ersichtlich wurde, abgebildet. Der Mann erlitt einen Halsdurchschuss. Gegenüber der Leiche – der Schusskanal wurde mit einem weissen Stab markiert – steht der bullige Mann mit einer Pistole in der Hand. Zusätzlich wurde der Verdächtige in eine Fotobox gesteckt, um seine Gestalt auszumessen und ihn digital in die 3-D-Welt stellen zu können.

Mit diesem Vorwissen darf ich mir nun die Tatortbrille aufsetzen, in der linken Hand halte ich einen Controller. Damit kann ich mich in jede Position des Tatorts beamen. Einmal stehe ich genau neben den Streitenden, einmal spaziere ich im wahrsten Sinne des Wortes an der Decke, um die Situation von oben zu beurteilen. Ich getraue mich – aus Angst davor in die Tiefe zu stürzen – kaum einen Schritt vorwärtszugehen.

Ich kann jede Position des Tatorts einnehmen

Plötzlich geht gar nichts mehr. Weder vor- noch rückwärts. Ich bin gefangen. Mein Begleiter schmunzelt: «Sie haben sich in einem Schrank versteckt.»

Till Sieberth lässt mich in die Position der Zeugin schlüpfen. Im Gegensatz zu ihr kann ich nicht erkennen, dass der Bullige eine Waffe in der Hand hält. Gegenstände versperren mir die Sicht. Sieberth erklärt: «Genau dies ist einer der Zwecke dieser Technik, Aussagen Tatbeteiligter oder Zeugen überprüfen zu können.»

War der Bullige also wirklich der Täter? Nein: Beim Musterfall kommt heraus, dass ein dritter Mann, der sich hinter einem Vorhang versteckt hielt, den Schuss abgefeuert hatte. Dies wird auch durch Schmauchspuren belegt, die man am Vorhang entdeckt hatte. Im Gegensatz dazu war der Bullige spurenfrei. 

In diesem Fall hätte auch eine normale Beobachtungsgabe gereicht. Die Flucht des tatsächlichen Schützen war von einer Überwachungskamera aufgezeichnet worden. Dieser war im Gegensatz zum Bulligen schlank. Fall gelöst! 

Was kann die Tatort-Brille alles?

Sechs Fragen an den Leiter des Zürcher Instituts für Rechtsmedizin (IRM) Michael Thali (51) und Jörg Arnold (57), stv. Chef des Forensischen Instituts Zürich

BLICK: Das 3-D-Verfahren zur Erfassung von Tatorten gibt es schon seit einiger Zeit. Was ist neu in Zürich?
Michael Thali/Jörg Arnold:
Das 3D-Zentrum Zürich, bei dem Kollegen aus Rechtsmedizin und Kriminaltechnik die gleichen Büros teilen, ist weltweit einzigartig. Neu ist der Einsatz von Virtual Reality (VR) in der Forensik. Dadurch wird ein virtueller Tatort begehbar und eine dreidimensionale Situation 1:1 erlebbar.

Welche Verbesserungen sind noch zu erwarten?
Dazu gehören zum Beispiel die Integration von physischen Objekten in die VR-Umgebung oder das Verbinden von mehreren VR-Systemen.

Kann man bald auf die Spurensicherung am Tatort verzichten?
Nein. Die klassische Spurensicherung (DNA, Fingerprints etc.) wird auch weiterhin zentral für die Tatortdokumentation bleiben. Die 3-D-Vermessungsverfahren ergänzen die Spurensicherung.

Oft muss die Lage einer Leiche, beispielsweise wegen Reanimationsmassnahmen verändert werden. Ist das ein Problem?
Lebenserhaltende Massnahmen haben immer Vorrang vor den Interessen der Spurensicherung. Fotos von Ersthelfern oder Überwachungskameras können allerdings helfen, wichtige rekonstruktive Fragen zu beantworten.

Wie viele laufende Fälle mit dem Einsatz der VR-Brille gibt es?
Bis jetzt wurde die VR-Tatortbegehung vier Mal durchgeführt.

Gibt es bereits rechtskräftige VR-Fälle?
Da VR erst seit rund zwei Jahren eingesetzt wird, gibt es noch keine rechtskräftig beurteilte Fälle. Das Feedback von Staatsanwälten deutet allerdings daraufhin, dass sich VR aufgrund der kostengünstigen und einfachen Umsetzung zu einem nützlichen Werkzeug für die Untersuchung von Kapitalverbrechen entwickeln könnte.

Sechs Fragen an den Leiter des Zürcher Instituts für Rechtsmedizin (IRM) Michael Thali (51) und Jörg Arnold (57), stv. Chef des Forensischen Instituts Zürich

BLICK: Das 3-D-Verfahren zur Erfassung von Tatorten gibt es schon seit einiger Zeit. Was ist neu in Zürich?
Michael Thali/Jörg Arnold:
Das 3D-Zentrum Zürich, bei dem Kollegen aus Rechtsmedizin und Kriminaltechnik die gleichen Büros teilen, ist weltweit einzigartig. Neu ist der Einsatz von Virtual Reality (VR) in der Forensik. Dadurch wird ein virtueller Tatort begehbar und eine dreidimensionale Situation 1:1 erlebbar.

Welche Verbesserungen sind noch zu erwarten?
Dazu gehören zum Beispiel die Integration von physischen Objekten in die VR-Umgebung oder das Verbinden von mehreren VR-Systemen.

Kann man bald auf die Spurensicherung am Tatort verzichten?
Nein. Die klassische Spurensicherung (DNA, Fingerprints etc.) wird auch weiterhin zentral für die Tatortdokumentation bleiben. Die 3-D-Vermessungsverfahren ergänzen die Spurensicherung.

Oft muss die Lage einer Leiche, beispielsweise wegen Reanimationsmassnahmen verändert werden. Ist das ein Problem?
Lebenserhaltende Massnahmen haben immer Vorrang vor den Interessen der Spurensicherung. Fotos von Ersthelfern oder Überwachungskameras können allerdings helfen, wichtige rekonstruktive Fragen zu beantworten.

Wie viele laufende Fälle mit dem Einsatz der VR-Brille gibt es?
Bis jetzt wurde die VR-Tatortbegehung vier Mal durchgeführt.

Gibt es bereits rechtskräftige VR-Fälle?
Da VR erst seit rund zwei Jahren eingesetzt wird, gibt es noch keine rechtskräftig beurteilte Fälle. Das Feedback von Staatsanwälten deutet allerdings daraufhin, dass sich VR aufgrund der kostengünstigen und einfachen Umsetzung zu einem nützlichen Werkzeug für die Untersuchung von Kapitalverbrechen entwickeln könnte.

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