BLICK erwischt weltweit gesuchtes Schweizer Paar beim Nickerchen
Die Schlafmützen von Interpol

Interpol fahndet weltweit nach sechs Schweizern. Mindestens drei von ihnen leben an bekannten Adressen in der Schweiz. Dennoch greifen die Behörden nicht ein. Warum?
Publiziert: 29.06.2017 um 23:45 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 16:54 Uhr
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Die Seite «Wanted Persons» von Interpol: Das sind die sechs gesuchten Schweizer.
Foto: Interpol
Guido Felder

Am Mittwoch schlug die Kantonspolizei Aargau zu: Sie holte den 54-jährigen Roger U.* bei der Arbeit ab und verhörte ihn drei Stunden lang. Die Aargauer Justiz reagierte damit auf die BLICK-Berichterstattung über den Aargauer, dem seine Ex-Freundin Ana Julia de Sousa Rebelo (44) vorwirft, sie 2004 in Brasilien verprügelt und nackt aus dem Fenster geworfen zu haben. Roger U. gehört deshalb zu den meistgesuchten Personen der brasilianischen Bundespolizei.

Anders als Roger U. leben weitere gesuchte Schweizer unbehelligt in unserem Land. Die Internationale kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol), der 190 Staaten angeschlossen sind, fahndet auf ihrer Homepage weltweit nach sechs Personen mit Schweizer Pass. Die Begehren auf der Seite «Wanted Persons» stammen aus Indien, Costa Rica, Albanien und Italien. Die Vorwürfe sind heftig: Entführung, Geldwäscherei, Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation und Urkundenfälschung. 

Gesuchte stehen im Telefonbuch!

Doch mindestens drei der Gesuchten machen keine Anstalten, sich zu verstecken. Ohne grossen Aufwand fand BLICK ihre Adressen in den Kantonen Thurgau und Zug heraus. Ein Blick ins Telefonbuch sowie einige kleine weiteren Abklärungen reichten.

Bei den Gesuchten aus dem Kanton Thurgau handelt es sich um das Paar Wilhelm (75) und Lilli (72) M.* Die indischen Behörden werfen den beiden unter anderem «Entführung zum Zweck der Sklaverei» sowie die Herstellung von «obszönem Material» vor. Als BLICK die weltweit gesuchten Schweizer kontaktierte, machten sie gerade ein Nickerchen. Auf die Interpol-Fahndung angesprochen, sagt Wilhelm M. kurz angebunden: «Mich interessiert nicht, wo ich überall drauf bin. Wir halten jetzt grad ein Mittagsschläfchen.»

Beim gesuchten Zuger handelt es sich um Jörg D.* (69). Die italienischen Strafverfolgungsbehörden werfen ihm Hehlerei und Geldwäscherei vor. Sie haben ihn zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wollte gestern zum Fall keine Stellung nehmen.

Schweizer Behörden greifen nicht ein

Warum schnappen sich die Schweizer Justizbehörden die ausgeschriebenen Personen nicht?

Die Kantonspolizeien Thurgau und Zug verweisen ans Bundesamt für Justiz. Dieses äussert sich gegenüber BLICK nicht zu den einzelnen Fällen. Es hält aber fest, dass «keine dieser Personen in der Schweiz gesucht wird».

Dass sie nicht verhaftet werden, kann zwei Gründe haben: Entweder hat das entsprechende Land bei der Schweiz kein Gesuch auf stellvertretende Strafverfolgung gestellt, oder die doppelte Strafbarkeit ist nicht gegeben, was heisst, dass die Tat nach schweizerischem Recht nicht illegal ist. Eine Ausschreibung auf der Interpol-Seite gilt noch nicht als Haftbefehl.

Für Folco Galli, Informationschef beim Bundesamt für Justiz, sind die insgesamt 144 Gesuchten auf der Webseite von Interpol «weniger als die Spitze des Eisbergs». Galli: «Alleine im vergangenen Jahr sind in der Schweiz über 30’000 internationale Fahndungsersuchen eingegangen.»

«Interpol-Fahndung ist bizarr»

Da erscheint die Interpol-Fahndung nach sechs Schweizern in diesem Verhältnis doch sehr aussergewöhnlich. Der ehemalige Basler Kriminalkommissar Markus Melzl bezeichnet sie sogar als «bizarr». Interpol schreibe jahrelang Personen öffentlich und weltweit zur Fahndung aus, von denen man nicht wisse, was sie wirklich angestellt haben sollen oder ob deren Verfahren abgeschlossen sind. Melzl: «Ich habe das Gefühl, dass es sich um Aktenleichen handelt.»

Der Kriminalist fordert eine bessere Kontrolle und Bewirtschaftung der Fahndungsseite. Es dürften zwingend nur Personen ausgeschrieben werden, wenn ein internationaler Haftbefehl vorliegt. Melzl: «Da läuft bei Interpol definitiv etwas falsch.»

Im Ausland wirds gefährlich

Den sechs Schweizern rät Melzl dringend, sich mit der lokalen Staatsanwaltschaft in Verbindung zu setzen, damit der Fall geprüft und allenfalls die Löschung in Auftrag gegeben werden kann. Denn solange die Schweizer ausgeschrieben sind, werden Auslandsreisen gefährlich. Melzl: «Wer im Ausland kontrolliert wird, kann verhaftet und von da ans Land, das die Fahndung eingeleitet hat, ausgeliefert werden.»

Interpol äussert sich knapp zum Thema. Die Organisation mit Sitz in Lyon (F) verweist darauf, dass die Mitgliedsländer selber bestimmen würden, wie sie mit den Informationen auf der Homepage umgehen und verweist BLICK ans Bundesamt für Justiz in Bern.

*Namen der Redaktion bekannt

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