Die Unterarme voll tätowiert, den Blick gesenkt: Denis C.* (32) sitzt an einem Tisch im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt (JVA) Pöschwies. Er wirkt in sich gekehrt, nachdenklich. Doch nichts deutet im ersten Moment darauf hin, dass er der Mann ist, der vor zwei Monaten, auf der Flucht vor der Polizei, als «Babyquäler von Appenzell» schweizweit für Schlagzeilen sorgte.
Nach seiner Festnahme hat ihn BLICK im Gefängnis besucht. Erstmals schildert er seine Version der Geschichte, spricht über sein Leben im Knast, den Grund für seine Flucht und wie es ist, mit dem Vierfachmörder von Rupperswil AG im gleichen Gefängnistrakt einzusitzen.
Vor ihm auf dem Tisch liegt ein dicker Aktenstapel: von Anwaltsschreiben über eigene Notizen bis hin zum schriftlichen Urteilsspruch. Im Dezember 2017 wurde er vom Kantonsgerichts Appenzell Ausserrhoden wegen schwerer Gewaltanwendung gegenüber seiner Ex-Partnerin und deren damals einjährigem Sohn zu fünf Jahren Haft verurteilt. Auf die Taten will C. nicht näher eingehen. «Ich habe das Urteil akzeptiert», sagt Denis C.
«Ich habe versucht mich umzubringen»
Das Knastleben hat ihn gezeichnet. «Ich lebe in permanenter Angst. Ich wurde schon mehrfach von anderen Häftlingen erpresst, bedroht und angegriffen.» Auch am 25. Mai kam es zu einer Auseinandersetzung. BLICK liegen Akten vor, denen zufolge er von einem Häftling geschlagen wurde. Resultat: Nasenprellung. Er landet im Arrest. «Aufwiegelung zu einem tätlichen Angriff», heisst es in der Disziplinarverfügung. «Sie haben mich einfach in den Bunker gesteckt.» Ihm wird alles zu viel. Er tobt. Die Situation eskaliert.
«Ich habe versucht mich umzubringen. Ich habe die Gummidichtung aus der Türe gerissen und mir eine Schlinge gebastelt», sagt C. Er hat sie schon um den Hals, als ein Wärter ihn entdeckt. «Ein Suizidrisiko lässt sich nie umfassend ausschliessen. Das wäre nur mit menschenunwürdigen Massnahmen wie andauernder Fixierung zu gewährleisten und ist daher weder erwünscht noch zulässig», sagt Rebecca de Silva, Sprecherin des Zürcher Amts für Justizvollzug.
«Ich hätte jeden Tag abhauen können»
Nach dem Suizidversuch wird C. noch am gleichen Abend in die Integrierte Psychiatrie Winterthur überstellt – in Handschellen und Fussfesseln. Vor Ort werden sie ihm aber abgenommen. «In der Klinik Schlosstal ist keine polizeiliche Überwachung aus Sicherheitsgründen vorgesehen», so de Silva. Bei Verlegungen aus der JVA Pöschwies sei man äusserst restriktiv. Seit 2015 sei Denis C. der einzige Insasse gewesen, der, eines Gewaltdelikts beschuldigt, aus der JVA Pöschwies in eine allgemeinpsychiatrische Klinik verlegt wurde.
Eineinhalb Wochen vergehen. In der Psychiatrie freundet er sich mit einer Patientin an. Sie verlässt die Klinik, doch der Kontakt bleibt. «Sie hat sich in mich verschossen. Wir hatten viel Kontakt via SMS.» Er erfährt, dass seine Rückkehr in die JVA bevorsteht. Bei ihm bricht Panik aus. Er beschliesst zu fliehen.
Polizei hört das Telefon seiner Mutter ab
Mittwochvormittag, 6. Juni: C. nimmt seine Chance auf den ihm angebotenen «Ausgang» wahr. Er trifft sich mit seiner Mutter in Winterthur ZH. «Wir haben am Mittag Burger gegessen und geshoppt.» Er türmt durch den Hinterausgang eines Kleiderladens.
24 Stunden nach seiner Flucht schreibt ihn die Polizei am 7. Juni zur öffentlichen Fahndung aus. C. hat indes bei seiner Klinik-Bekanntschaft im Zürcher Kreis 11 Unterschlupf gefunden. Sie gehen zusammen einkaufen, spazieren mit ihrem Hund Gassi. Doch als sein Fahndungsbild in der Zeitung landet, verlässt er nur noch selten die Wohnung.
Er will sich stellen, will nicht, dass seine Geliebte seinetwegen Probleme bekommt. Er hadert mit seiner Entscheidung: «Ich hatte Angst, in die JVA zurückzugehen.» Bei seiner Mutter sucht er Rat. «Doch die Polizei hat ihr Telefon abgehört.» Ohne es zu wissen, führt C. die Beamten direkt zu seinem Versteck. Dann geht alles blitzschnell. Das Sondereinsatzkommando wirft eine Blendgranate und stürmt die Wohnung. «Ich habe mich aufs Sofa geworfen und mir ein Kissen über den Kopf gezogen.» Er leistet keinen Widerstand.
Schach mit dem Vierfachmörder von Rupperswil
«Ich bin aus Angst abgehauen», sagt C. mit ruhiger Stimme. Doch seine Verzweiflung ist nicht zu überhören. Seit zwei Monaten sitzt er wieder in Regensdorf ZH hinter Gittern – in der Sicherheitsabteilung. Dort, wo auch der Vierfachmörder von Rupperswil, Thomas N.* (35), seine Strafe absitzt. «Ich habe bisher einmal mit dem Vierfachmörder Schach gespielt», sagt C.
Thomas N. verhält sich laut C. im Knast «sozial und freundlich». Sie hätten bisher aber kaum Kontakt gehabt. «Einmal haben wir kurz miteinander gesprochen.» Er schüttelt ungläubig den Kopf: «Wenn man ihn so sieht, würde man nicht denken, dass er zu so einer grauenhaften Tat imstande ist. Ich sitze hier wirklich mit den richtig schweren Jungs.» Dass er mit ihnen in der gleichen Abteilung untergebracht ist, kann er nicht nachvollziehen.
C. könnte noch in diesem Jahr wieder freikommen, wenn er zwei Drittel seiner Strafe abgesessen hat. Was er dann machen will? Ungewiss. Er will vor allem seine Freiheit zurück. «Die Zeit im Knast hat mich umgekrempelt. Ich will dieses Mal alles richtig machen.»
* Namen der Redaktion bekannt