Auf einen Blick
Der Weinbergarbeiter Jean Lanfrey, ein Säufer aus Commugny im Kanton Waadt, ist sternhagelvoll, als er am späten Nachmittag des 28. August 1905 seine schwangere Frau und seine beiden minderjährigen Töchter erschiesst.
Den Behörden ist sofort klar: Der Absinth, dieser hochprozentige Schnaps aus Wermutkraut, Anis und Fenchel, habe den Taugenichts in einen Zustand der Raserei versetzt. Über die bis zu vier Liter Wein, die Lanfrey täglich in sich hineinschüttete, sieht man grosszügig hinweg.
Doch der Absinth, dieser Exportschlager, ohne den die Bilder der Künstler aus der Belle Époque möglicherweise etwas weniger bunt ausgefallen wären, wurde bald darauf verboten. Und für das Val-de-Travers, Geburtsstätte der «Grünen Fee», brachen finstere Zeiten an.
Illegale Brennereien
Sarah Fuchs-Rota (39) hat die «Prohibition» als Teenager in Môtiers NE noch miterlebt, ehe das Absinthverbot 2005 wieder aufgehoben wurde. Sie wusste, hinter welchen Wandschränken in den Nächten illegale Brennereien ihren Betrieb aufnahmen. Es war ihr Vater, der die Destilliergeräte der widerspenstigen Bauern insgeheim reparierte.
Heute, fast 120 Jahre nach dem Bann, nippt die SP-Gemeinderätin ganz legal an einem Glas Absinth von einem Produzenten aus der Region. Sie tut es im Maison de l’Absinthe, einem Museum in Môtiers, in dem sich alles um die legendäre Spirituose dreht.
«Eine hübsche Ironie der Geschichte», findet das Fuchs-Rota. Denn früher diente das Haus aus dem 17. Jahrhundert als Polizeiposten. Wer beim verbotenen Brennen erwischt wurde, musste hier antraben. Einmal, so erfährt man in der Ausstellung, soll eine besonders fleissige Bäuerin auf eine soeben verhängte Busse voller Spott geantwortet haben: «Können wir das gerade mit Ihrer nächsten Absinth-Bestellung verrechnen?»
«Steuerhölle der Schweiz»
Kürzlich hat die Region indes mit einer weniger charmanten Geschichte Berühmtheit erlangt. Nach einem Gemeinderanking der «Handelszeitung», in dem die neun Ortschaften, die zur Kommune Val-de-Travers gehören, ziemlich mies abgeschnitten hatten, titelte etwa Blick: «Darum ist Val-de-Travers die schlechteste Gemeinde».
Unter die Lupe genommen wurden 51 Faktoren, darunter die Höhe der Steuern, die Lage oder die Einkaufsmöglichkeiten. Obenaus schwang die Gemeinde Meggen LU, Val-de-Travers bildete das Schlusslicht. Verantwortlich dafür sind die hohen Steuern, Arbeitslosigkeit und Abwanderung, der fehlende See. Oder wie es die «Handelszeitung»-Journalistin zusammenfasste: «Das Val-de-Travers ist die Steuerhölle der Schweiz.»
Ein Kaffee für 3.20 Franken
Strukturschwach, ja – aber Hölle? Dafür sieht es hier ziemlich grün aus. Zu Fuss dauert es zum Wald keine halbe Stunde, auf den Wiesen grasen Kühe mit langen Hörnern. Und statt Fegefeuer gibt es Dutzende Brunnen und Parks, in denen sich die Leute noch «Bonjour» sagen, wenn sich ihre Wege kreuzen.
«Wir leben sehr gut hier», sagt Sarah Fuchs-Rota. Für den Kaffee bezahle man 3.20 Franken, der Kinoeintritt koste 10 Franken. Am Ende bleibe den Leuten in Val-de-Travers mehr zum Leben – trotz hoher Steuern.
Besagte Untersuchung, so Fuchs-Rota, sei aus einer Reichen-Perspektive gemacht worden. «Die Mehrheit der Leute in der Schweiz wohnt nicht an einem See.» Was Val-de-Travers attraktiv mache, seien die tiefen Mieten, das Angebot für Kinderbetreuung, die Museen. Ihr Heimatdorf Môtiers habe mit fünf Museen auf 800 Einwohnerinnen die wohl höchste Museumsdichte der Schweiz. Überhaupt sei den Ranking-Machern ein Denkfehler unterlaufen, sagt Fuchs-Rota. Vermögende Menschen würden Hunde lieben, doch für Vierbeiner seien Blaualgen in den Seen lebensgefährlich. «Diese Hunde würden viel lieber in unseren Wäldern spielen.»
Hohe Lebensqualität
Ein Dorf weiter, in Fleurier, steht Olivier Fahrni (52) vor dem Schaufenster eines Immobilienbüros und macht auf die Schnäppchen aufmerksam: «Wer im Val-de-Travers eine günstige Wohnung oder ein Haus sucht, wird sofort fündig.» Tatsächlich: Eine moderne Duplex-Wohnung mit 4,5 Zimmern kostet in Fleurier 460'000 Franken. In Zürich müsste man für Ähnliches das Fünffache hinblättern.
Fahrni ist der Präsident der lokalen FDP, er arbeitet im Marketing bei der Versicherungsgesellschaft gleich gegenüber der Brasserie. In der Gegend aufgewachsen, gehört er inzwischen zu den zahlreichen Rückkehrern. Aufgebrochen war er, weil er in jungen Jahren Karriere machen wollte, in Lausanne VD oder im Silicon Valley in Kalifornien. Heimgekommen ist er aus denselben Gründen, weshalb er damals gegangen ist: Weil es im Val-de-Travers ruhiger zu- und hergeht als in der Stadt. «Das ist eine Lebensqualität, die ich heute enorm schätze.»
Krisenerprobte Gesellschaft
Die Leute im Val-de-Travers sind resilient. Nach der Uhrenkrise in den 70ern hat man es in den letzten Jahrzehnten geschafft, die totgeglaubte Industrie wieder zum Leben zu erwecken – genau wie das Business mit dem Absinth. Vor drei Jahren eröffnete der bekannte finnische Uhrenmacher Kari Voutilainen eine Manufaktur auf dem Chapeau de Napoléon, einem Felsen oberhalb von Fleurier, der dem Hut des französischen Generals und Kaisers gleicht.
Statt im geheizten Zürcher Büro eine Statistik zu erstellen, sagt Olivier Fahrni, sollten diese Leute besser vorbeikommen und sehen, wie es hier wirklich ist. «Wenn das hier die Hölle wäre, würden alle Leute in Ruinen hausen und alte Klapperkisten fahren – und niemand Uhren für eine Viertelmillion Franken produzieren.»
Auf einem Fensterladen in Môtiers steht ein Spruch des im Juni dieses Jahres verstorbenen Künstlers «Ben»: «Je doute de tout» – ich zweifle an allem. Vermutlich gilt das auch für Gemeinderankings.