«Ich war nicht immer so düster und deprimiert»
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Kneubühl über Film-Darstellung:«Ich war nicht immer so düster und deprimiert»

Besuch beim bekanntesten Häftling der Schweiz
Peter Hans Kneubühl, gefangen in seiner Welt

Vor zwölf Jahren hielt er ganz Biel in Atem, heute ist er noch immer einer der bekanntesten Verbrecher der Schweiz: Peter Hans Kneubühl (79). Ein aktueller Spielfilm spürt ihm nach. Und wir wollen wissen: Was fasziniert an ihm? Ein Besuch im Gefängnis.
Publiziert: 06.11.2022 um 00:45 Uhr
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Aktualisiert: 25.03.2023 um 21:51 Uhr
Rebecca Wyss

Ein Tag im Oktober 2022. Regionalgefängnis Thun BE. Die Tür geht auf, ein Mann duckt sich durch den Rahmen in das karge Anwaltszimmer. Steht aufrecht da. Graue Strickjacke über schwarzem Hemd, Crocs-Finken, das schüttere Haar gekämmt, der Gang behäbig. Peter Hans Kneubühl hat nicht mit uns gerechnet, nicht heute, hat sich im Tag geirrt. Er musste juflen, das passte ihm erst nicht. Nun ist er trotzdem da. Und entschuldigt sich für die Verspätung. Er sagt: «Ich wollte mich doch vorbereiten, zurechtmachen, bevor Besuch kommt.»

Berühmter Schweizer Verbrecher: Peter Hans Kneubühl.
Foto: Peter Mosimann

Dieser nette ältere Herr ist einer der bekanntesten Verbrecher der Schweiz. Verantwortlich für ein Grossaufgebot in Biel. Vor zwölf Jahren. Die Zahlen: 1057 Polizisten mit 150 Nachtsichtgeräten und 40 Maschinenpistolen, ein Helikopter des Typs Super Puma und ein Radschützenpanzer Piranha. Neun Tage und Nächte suchten sie ihn. Am 17. September 2010 war er gefasst. Hans Stöckli, damals Bieler Stadtpräsident, sagte dem Blick: «Der Schatten über Biel ist jetzt weg.» Die Stadt atmete auf. Keiner ahnte: Das war noch lange nicht das Ende.

Erst fünf Tage nach der Flucht am 8. September 2010 hatte die Kantonspolizei Bern ein korrektes Fahndungsbild von Peter Hans Kneubühl.
Foto: KEYSTONE Sobli Blick

Tausende von Medienartikeln und -beiträgen haben Peter Hans Kneubühls Geschichte verewigt. Am 11. November fügt ihr der Kinofilm «Peter K. – Alleine gegen den Staat» nun ein neues Kapitel hinzu. Eine Fiktion, basierend auf wahren Ereignissen. Der Mann fasziniert, trifft einen Nerv. Doch warum? Das wollen wir in Thun herausfinden.

Er könnte es besser haben, will aber nicht

Kneubühl setzt sich, faltet die Hände auf der Tischplatte, sagt bedächtig: «Ich bin unschuldig.»

Er ist 79 Jahre alt und verwahrt. Nach Thun kam er 2014. Ins härteste Haftregime der Schweiz, dem sonst nur Untersuchungshäftlinge unterworfen sind. Mit bis zu 23 Stunden Isolation in der Zelle, eine Stunde Hofgang. Die Häftlinge sind im Schnitt 57 Tage hier. Der Einzige, der bleibt, wohnt in Zelle 006.

Kneubühl sollte in eine Justizvollzugsanstalt verlegt werden, mit Wohngruppen und tagsüber offenen Türen, die Insassen besuchen sich, wann sie wollen, schauen Filme zusammen, spielen Gesellschaftsspiele. Mehr Freiheiten. Mehr Luft zum Atmen. Das hat Kneubühl mittlerweile auch in Thun. Er kann die Zelle öfter verlassen als während der U-Haft, doch die Enge bleibt. Die Türen sind verschlossen. Jeder Schritt raus, in die Bibliothek, zum Duschen oder Spazierengehen, muss geplant werden. Dies gilt für alle Insassen in diesem Bau. Doch Kneubühl will hier bleiben. Das hat er mit Hungerstreiks durchgesetzt.

Er hielt 2010 ganz Biel in Atem. Und sorgte für ein Polizei-Grossaufgebot.
Foto: Peter Mosimann

Mit uns spricht er nur aus einem Grund: Er will, dass sein Fall wieder aufgenommen wird. Das steht so in seinem dreiseitigen Brief an uns. Handgeschrieben. Dafür kämpft er seit zwölf Jahren.

Kneubühl sagt: «Die Gutachter, die Richter, die Medien – alle stellen mich als Psychopathen dar. Das ist falsch.»

Richtig ist: Er lebt in seiner eigenen Welt. Mit eigenen Wahrheiten. Richtig ist auch: Er sitzt nicht ohne Grund.

Rückblende. Am 8. September 2010 stand die Sondereinheit Enzian der Berner Kantonspolizei vor Kneubühls Elternhaus am Mon-Désir-Weg in Biel, aus dem er nicht rauswollte. Das Haus sollte wegen eines Erbstreits mit seiner Schwester zwangsversteigert werden. Für Kneubühl ein wahr gewordener Albtraum. Er war dort aufgewachsen, hatte dort zuletzt seine Mutter fast bis zum Tod gepflegt. Nun verschanzte er sich im Haus. Im Keller das Erbe vom Vater: Faustfeuerwaffen, eine Armbrust, ein altes Bajonett und Schachteln voller Munition. Elf Stunden lang belagerten Polizisten das Haus, dann stürmte Kneubühl plötzlich raus, schoss, verletzte einen Polizisten schwer am Kopf und verschwand in die Nacht. Bis man ihn schnappte, war Biel im Ausnahmezustand. Wie Kneubühl aussah – das wusste ausser den Nachbarn keiner. Und wer der Mann wirklich ist, konnten auch sie nicht sagen.

In diesem Haus im Linden Quartier von Biel BE wohnte Peter Hans Kneubühl.
Foto: Blick

Er hat Fans und Feinde

An die Öffentlichkeit sickerte durch: Kneubühl hatte Physik und Mathematik studiert, war Lehrer. Lebte über Jahre im Ausland. Bis er zurück nach Biel kam. Zu seinen Eltern, weil sie ihn brauchten. Dort lebte er nach deren Tod zurückgezogen. Und tauchte immer mal wieder ab.

Kneubühl war ein Phantom. Die perfekte Projektionsfläche.

Und so hat er, was wenige Verbrecher haben: eine Fan-Gemeinde. Linke organisierten Kundgebungen, lasen vor den Medien Statements vor: Kneubühl sei kein Wolf, den die Behörden zum Abschuss freigeben könnten. Druckten «Peschä»-Shirts, gründeten Facebook-Gruppen. Und ganz normale Leute auf der Strasse kritisierten vor laufender Kamera die «Hetzjagd» gegen den «armen Teufel».

Der Mann polarisiert bis heute. Noch immer stilisieren ihn manche zum Freiheitskämpfer gegen die Staatsgewalt. Anderen sehen in ihm den «Beinahe-Polizistenmörder». Berserker. Monster. Klar ist: Peter Hans Kneubühl ist psychisch krank. Die Diagnose: wahnhafte Störung. Verfolgungswahn.

Regionalgefängnis Thun. Wer mit Peter Hans Kneubühl sprechen will, braucht Geduld. Er verliert sich in Monolog-Spiralen, die immer dort enden, wo sie angefangen haben: bei seiner Schwester. «Meine Schwester ist der Teufel», sagte er einmal vor Gericht. So weit geht er nun nicht mehr. Doch der Vorwurf bleibt: «Meine Schwester hetzte den Staatsschutz, die Polizei, die Richter auf mich.» Er sieht es so: Sie und die Feministinnen halten das Justizsystem im Würgegriff.

Hier schreibt er: Die Zelle ist zwölf Quadratmeter gross.
Foto: Peter Mosimann

2010 stand für ihn fest: Die Polizei wollte ihn töten. Vor seiner Festnahme schrieb er jeden Tag in sein Tagebuch: «Die Schweine sind heute noch nicht gekommen, sie lassen mich noch einen Tag länger leben.» Seine Taten rechtfertigte er stets gleich: Er musste auf die Polizisten schiessen, aus Notwehr. Mit dieser Version steht er alleine.

Der Wahn verschlingt ihn

Kneubühls innere Welt gleicht einem Horrorfilm. Wer in sein Leben tritt, wird Teil davon. So auch wir. Die Medien, die Richter, die Polizei – alles Akteure in einem Komplott. Im Gespräch ist davon wenig zu merken. Peter Hans Kneubühl ist nie laut, immer ruhig, bisweilen freundlich, nimmt sich zweieinhalb Stunden Zeit, obwohl er bald müde aussieht. Würde dieser Mann jemanden angreifen, wenn man ihn in Ruhe liesse? Schwer zu sagen.

Kneubühl nach der Urteilsverkündung 2013
Foto: Blick

Der Verlauf einer wahnhaften Störung ist unberechenbar. Vor allem wenn es sich um Paranoia handelt. Das weiss Philipp Sterzer, er ist Chefarzt bei den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel. Er sagt: «Die Betroffenen glauben unerschütterlich daran, dass sie verfolgt und bedroht werden, und lassen sich durch Fakten nicht vom Gegenteil überzeugen.» Alles, was im Alltag passiert, verknüpfen sie mit ihrer Wahn-Erzählung. Ärzte, Freunde, Verwandte werden plötzlich böse. Misstrauen, ständig. Drei von hunderttausend Menschen sind betroffen.

Kneubühl lehnt die Diagnose ab. Er sagt: «Nicht ich bin krank, sondern das System.» Fest steht: Damit stürzte er sich ins Verderben.

2013 befand das Regionalgericht Berner Jura-Seeland: nicht schuldfähig. Kneubühl wehrte sich bis vors Bundesgericht. Erfolglos. Musste eine stationäre Massnahme antreten, die kleine Verwahrung. Sie kommt zum Zug, wenn Richter Straftäter für psychisch gestört, aber für therapierbar halten. Doch Kneubühl glaubt, Psychiater wollten ihn manipulieren. Lässt niemanden ran. Vor zwei Jahren entschieden die Richter: ordentliche Verwahrung. Auch dagegen wehrte er sich vergeblich. Nicht zuletzt weil er den heutigen Bewohnern seines früheren Elternhauses einen Brief schrieb: Er drehe ihnen den Hals um, sobald er rauskomme.

Spezialeinheiten suchen 2010 nach Peter Hans Kneubühl.
Foto: Blick

Jetzt ist er an dem Ort, aus dem er sich im September 2010 befreien wollte: in der Enge. Unter Dauerbeobachtung. Womöglich bis ans Lebensende. Doch das blendet er aus. So wie seine Bedürfnisse. Er hätte Arbeit, eine Beschäftigung zugute. Doch er will nichts, ausser das: Papier und Kugelschreiber für seinen Kampf.

Regionalgefängnis Thun. Wir stehen in seiner Zelle. Zwölf Quadratmeter. Die Wände weiss und babyblau, das vergrössert den Raum optisch. Auf der Ablage steht ein Fernseher, der Bildschirm ist schwarz. Kneubühl hat keine Zeit. Er schreibt. Muss schreiben. Das Schreiben hält ihn am Leben. Die Empfänger: unzählige Behördenstellen. Das Ergebnis: Papier, überall, gestapelt, geordnet, fein säuberlich beschriftet. Oder in den Zügelkisten an der Wand verstaut. Sie wirken wie Andenken. Damit man seine Geschichte nicht vergisst. Ihn nicht vergisst. Kneubühl zeigt darauf, sagt: «Jedes Jahr fülle ich eine.»

Jedes Jahr füllt er eine Kiste.
Foto: Peter Mosimann

Ein dunkles Familiengeheimnis

Kneubühl vergisst nie. Immer wieder zieht es ihn in die Tiefen seiner Familiengeschichte hinab. Hin zu dem Menschen, der ihm einst nahe stand und er nun verabscheut: seine Schwester.

Nach aussen wirkte die Familie Kneubühl ganz normal, war sozial eingebunden. Vater und Schwester gründeten einen Schützenverein. Verstanden sich gut. So auch die Geschwister. Bis zu jenem Tag in den Achtzigern, als die Schwester schwere Vorwürfe erhob. Sie hatte eine Therapie gemacht und mutmasslich verdrängte Erinnerungen hochgeholt: sexueller Missbrauch in der Kindheit. Die mutmasslichen Täter: der Vater und dessen Freund. Die Mutter habe es gewusst. Die Schwester konfrontierte die Eltern, konfrontierte den Bruder Peter Hans.

Dieser sagt heute: «Meine Schwester wurde nie vergewaltigt. Sie lügt.» Bis zu ihrem Tod seien die Eltern die Opfer der Schwester gewesen.

Der Fall bleibt ungeklärt, die Schwester ist nach Frankreich verschwunden. Doch der Fall hallt nach. Die psychiatrische Gutachterin Anneliese Ermer sagte vor Gericht: «Es ist denkbar, dass diese Behauptungen Kneubühl in einen tiefen Konflikt gestürzt haben, dass er Schuldgefühle hatte.» Weil er sich nicht für die Eltern eingesetzt habe. Ihr Fazit: Dies hat wahrscheinlich seine Störung ausgelöst.

Früher war er ein Herdentier

Diese Einschätzung ist neun Jahre her. Und nun Teil des Kinofilms «Peter K.». Er zeigt einen Mann, der in einen Wahn-Strudel gerät und immer tiefer abrutscht. Peter Hans Kneubühl hat ihn sich vorab ansehen dürfen. Findet ihn gelungen. Bis auf eine Sache: Die Hauptfigur sei düster und deprimiert. Er sagt: «Ich bin kein trüber Einzelgänger.»

Als junger Mann suchte er die Nähe zu Menschen, lebte in Landkommunen in Frankreich, England und Israel. Er war gegen AKW und für die freie Liebe. Und anders als heute: offen für die Psychologie. Er sagt: «Wir führten Gruppentherapien durch, um Spannungen abzubauen, bei 20, 30 Leuten gibt es immer Konflikte.»

All das ist passé. Besuch ist rar. Manchmal schaut Andres Zaugg, der St.-Ursen-Brandstifter aus Solothurn, vorbei. Seine Biografie liegt in Kneubühls Zelle. Doch sonst: Der Mann ist alleine.

Rechts: Die Biografie des St.-Ursen-Brandstifters.
Foto: Peter Mosimann

Wie kommt das?
Kneubühl sagt: «Der Staat zwang mich dazu.» Er verfolge ihn seit 1992. Ab da habe er niemandem mehr trauen können. Alle Kontakte kappen müssen.

1992 ist das Jahr seiner ersten Verhaftung. Aus Kneubühls Sicht: ohne Grund. Wahr ist: Er hatte sich geweigert, den Polizisten zu sagen, wer er ist. Das Erlebnis war für ihn der Beweis für den langen Arm des Überwachungsstaats, es veränderte ihn.

Die Angst vor dem Vergessenwerden

Heute lässt er nur noch wenige Leute an sich heran, ein falsches Wort, und er wird misstrauisch, will mit der Person nichts mehr zu tun haben. Zu einem Mann hat er einen Draht: Ulrich Kräuchi (60), körperlich topfit und schrankgross. Seit zwölf Jahren leitet er das Regionalgefängnis in Thun. Kräuchi sagt: «Wir haben uns aneinander gewöhnt.»

Der Gefängnisdirektor: Ulrich Kräuchi.
Foto: Peter Mosimann

Die Zeit in U-Haft schlägt den Häftlingen auf die Psyche. Die meisten verlangen sofort nach einem Fernseher. Die schwierige Zeit überbrücken. Anders Peter Hans Kneubühl. Kräuchi sagt: «Er ist anspruchslos.» Und anständig. Vielleicht liegt das auch an Kräuchi. Neulich brachte er Kneubühl seine älteren Ausgaben eines Reportage-Magazins.

Ob Kneubühl je wieder aus der Verwahrung rauskommt, ist offen. Er müsste einsichtig sein, sich therapieren lassen. Oder altersschwach werden.

Für Kneubühl steht fest: Eines Tages kommt er frei. Bis dahin rührt er sich nicht vom Fleck. Er sagt: «Ginge ich in den Justizvollzug, wäre das ein Schuldeingeständnis. Ich akzeptiere die Urteile nicht. Ich akzeptiere nichts.»

Bevor die schwere Tür zu Zelle 006 ins Schloss fällt, gibt er uns die Hand. Bedankt sich, sagt: «Das Schlimmste ist, wenn man vergessen wird.»

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