Von Bernhard Russi
Und schon flog Ueli durch die Luft – ins Seil. «Sch....! Aber besser heute als gestern!» Mit gestern meinte er vier Jahre zuvor, als er diesen 350 Meter hohen, fast senkrechten Pfeiler «free solo», das heisst allein und ohne Seil, durchstieg.
Ueli hatte mir diese Klettertour zu meinem 60. Geburtstag geschenkt. Ich war fasziniert, diese Route mit einem Freund klettern zu dürfen, der sie ohne Seil und ohne Probleme gemeistert hatte. Der Schwierigkeitsgrad 6b, der dort obligatorisch geklettert werden muss, war mein Limit. Für Ueli, der sich sonst im achten Grad bewegte, war es ein herrlicher, warmer Sommertag in luftiger Höhe, ohne Stress, ohne Grenzen zu überschreiten, ohne ans Limit gehen zu müssen.
Am besten am Limit
In diesem Moment wusste ich, dass Ueli Steck am besten ist, wenn er am Limit ist, wenn er alles, was sein Können hergibt, abrufen muss, wenn seine Konzentration in die Bewegung verschmilzt und nur noch das Hier und Jetzt zählt. «Übrigens, das Loch habe ich damals nicht mit der linken Hand genommen, sondern mit dem linken Fuss», sagte er mir später, oben angelangt.
Am letzten Sonntagmorgen, nach einer dreistündigen Skitour, fuhr ich bei Sonnenschein, blauem Himmel und bei schönstem Pulverschnee meine letzten Schwünge, als mein Telefon surrte: Ueli ist abgestürzt!
Schock und Leere. Nichts. Nicht einmal Fragen. Mein erster klarer Gedanke galt Nicole, seiner Familie und seinem Freund Röbi, der ungefähr im gleichen Moment in Kathmandu landen sollte.
Ueli überliess nichts dem Zufall
Wahrscheinlich werden wir die Ursache dieses schrecklichen Absturzes nie erfahren. Aber genau in dieser Phase hat Ueli sicher nicht überdreht, ist kein unnötiges Risiko eingegangen und hat genau gewusst, was er tut und warum. Gerade deshalb tut es so weh. Es geschah in der Vorbereitung, bereits gut akklimatisiert und aus Uelis Sicht wohl auch in der Komfortzone
Ueli Steck plante seine Projekte, seine Touren, seine hochgesteckten Ziele immer minuziös, überliess nichts dem Zufall. Bei unserer Expedition auf den EL Cap war er es, der die Route bis spätabends studierte und frühmorgens das Topo abermals auf den Tisch legte. Neben den frischen Kaffee. Übrigens dem Besten in ganz Kalifornien. Ueli kannte jeden Zentimeter der Route, kletterte aber als Schufter, der am Schluss die 50 oder mehr Kilo schweren Säcke nachzog. Er machte die Drecksarbeit. Mit gebrochener Hand, wie sich nach zweieinhalb Tagen harter Kletterei herausstellte.
Ja, es gibt das Restrisiko. Das wissen wir alle, die wir leben wollen. Das wusste auch Ueli. Er hievte das Bergsteigen in andere Dimensionen, liess das Limit im Unverständlichen verschwinden. Was dieser Grenzbereich bedeutet, ob er machbar ist oder nicht, das kann niemand ausser Ueli selbst beurteilen. Denn nur er war dort!
Wir haben einen der besten Bergsteiger verloren, aber Ueli hat das Leben gelebt in vollen Zügen, nicht für die Bühne, das Scheinwerferlicht – nur für sich selbst, aus voller Überzeugung. Aber das tröstet im Moment nicht. Es schmerzt unheimlich!