Nathan und Gowry verlangten nichts Unmögliches. Bloss ein normales Leben in Sicherheit. Sie haben es gefunden. In Bümpliz BE. Am Sonntag wurde es ihnen wieder genommen. Von einem Selbstmordattentäter. Ausgerechnet in dem Land, aus dem sie einst der Gewalt entflohen.
Ihr Leben ist das Leben vieler Tamilen in der Schweiz. Hineingeboren in eine Zeit, die durch Spannungen zwischen hinduistischen Tamilen und buddhistischen Singhalesen geprägt war, in einem Dorf im Norden von Sri Lanka. Die Ursprung dieser Spannungen geht in die Kolonialzeit zurück. Grossbritannien bevorzugte damals die Minderheit der Tamilen gegenüber der Mehrheitsbevölkerung. Und obwohl die Briten friedlich gingen, schufen sie damit den Nährboden für einen Bürgerkrieg. 1983 brach der Konflikt aus. Nathan und Gowry mittendrin. Im Krieg gibt es keine Sicherheit. Ein normales Leben aber braucht Sicherheit. Die beiden flüchteten. Wie Hundertausende andere Tamilen auch.
Schwieriger Start in der Schweiz
1990 erreichten sie die Schweiz. Es war nicht nur die wetterbedingte Kälte, die den Flüchtlingen hier zu schaffen machte. Die Tamilen galten als Inbegriff des Fremden und bekamen das auch zu spüren. Geprägt war die erste Zeit zudem von der ständigen Angst einer Rückschaffung.
Nathan und Gowry liessen sich nicht beirren. Ungebrochen ihr Wunsch nach einem normalen Leben. So machten sie es wie viele Tamilen: Sie gingen in die Küche. Nathan in die eines Altersheims. Gowry wurde Hilfsköchin und Putzfrau. Beide lernten Deutsch, arbeiteten hart. Von niemandem abhängig wollten sie sein – und schafften es. Bald wurden sie Eltern und die drei Kinder ihre grösste Freude. Über den Krieg sprachen sie nicht. Obwohl das Mami wohl Schweres erlebt habe, wie die heute 27-jährige Tochter sagt. Was zählte, war die Gegenwart: Die Ausbildung der Kinder, die Momente, wenn Gowry Gerichte aus Sri Lanka kochte, alle zusammen am Tisch sassen – normales Leben, endlich!
Der Bürgerkrieg in Sri Lanka ging weiter. 100'000 starben in dem Konflikt, der erst vor zehn Jahren endete. Einmal reiste die Familie gemeinsam in die alte Heimat: ein fremdes Land für die Kinder – und mittlerweile auch für ihre Eltern.
Respekt gegenüber allen Menschen
Ihr Zuhause war längst in der Schweiz. Nie wieder wollen Nathan und Gowry von Bümpliz weg. An Weihnachten gibt es Raclette, unter dem Weihnachtsbaum liegen Geschenke. Die Familie besucht den hinduistischen Tempel, Gowry am Sonntag auch die Kirche. Respekt gegenüber allen Menschen, allen Religion, das lehrten sie ihre Kindern. Was Hass anrichten kann, haben sie in Sri Lanka erlebt.
2011 übernahmen sie im Berner Lorraine-Quartier einen Kiosk. Sieben Tage die Woche ist er offen, von früh bis spät. Er ist ihr zweites Zuhause. Und für manche Quartierbewohner ein erweitertes Wohnzimmer. Menschen finden hier, was sie draussen oft vermissen – Wärme. Ob Professor oder Randständiger: Nathan und Gowry begegnen allen Menschen mit dem gleichen Respekt.
Die Tochter heiratete vor zwei Jahren, der ältere Sohn studiert, der jüngere macht eine Lehre. Alle haben den Schweizer Pass. Der srilankische Pass von Nathan und Gowry aber droht abzulaufen. Sie lässt den ihren hier in der Schweiz erneuern. Es dauert acht nervenzerrende Monate, bis sie einen neuen hat; die Bürokratie in Sri Lanka, die Korruption... Der Vater beschliesst, nach Sri Lanka zu reisen, seinen Pass dort zu erneuern.
Schöne letzte Reise – bis am Ostermorgen
Gowry will nicht mit. Doch die Ferien sind lange her, noch länger der letzte Besuch in der alten Heimat. Ausserdem will Nathan seine Schwester besuchen. Also beschliessen sie hinzufahren, gemeinsam mit den Söhnen. Die Passerneuerung ist mühelos, der Besuch bei der Schwester schön. Und doch freuen sie sich, wieder heimzukommen, in die Schweiz. In einer Sprachnachricht fragt Gowry ihre Tochter, was sie ihr aus Sri Lanka mitbringen soll. Es ist die letzte Nachricht. Am Ostermorgen wollten sie im Hotel frühstücken, dann zum Flughafen fahren. Zwei Menschen, die darauf hoffen, bald Grosseltern zu werden. Da betritt ein Mann den Raum, der keine Ahnung vom Leben hat. Er sprengt sich in die Luft.
Die Söhne sind zu diesem Zeitpunkt noch im Zimmer. Sie leben.
Am Freitag trafen sie in der Schweiz ein. Mit ihnen die Eltern. Nathan wurde 61 Jahre alt, Gowry 56. Morgen Montag werden sie beerdigt.
Die Tamilen in Toffen BE beten am Freitagabend in ihrem Tempel für das Ehepaar. Sie wissen, was es gekostet hat, hier ein Leben aufzubauen. Denn es ist auch ihre Geschichte. Und sie wissen, dass ein normales Leben in Sicherheit zu führen auf dieser Welt keine Selbstverständlichkeit ist.
Kinder wollen Kiosk weiterführen
Vor dem Kiosk legen Quartierbewohner Blumen nieder. Sie können nicht glauben, dass Nathan und Gowry nicht wieder kommen. Diese zwei Menschen, die ein normales Leben wollten – und dabei so aussergewöhnlich waren. Aussergewöhnlich präsent, aussergewöhnlich fleissig, aussergewöhnlich warmherzig.
Die beiden Söhne werden künftig mit ihrer Schwester und deren Ehemann zusammenleben. Und den Kiosk gemeinsam führen: «Wir wissen, was Mami und Papi dieser Kiosk bedeutet hat.» Sie werden darin weiterleben.
Auch wenn der Schmerz gerade alles überdeckt, sagen die drei: «Der Hass wird nicht siegen.» Es ist, was ihnen ihre Eltern gelehrt haben.
Alle aktuellen Informationen zu den Anschlägen gibt es immer im Newsticker.