Kann eine Mutter ihr eigenes Kind brutal erschlagen und dann einfach liegenlassen? Für das Regionalgericht Bern-Mittelland besteht laut dem Gerichtspräsident «kein Zweifel»: Erika M.* (32) hat ihre Tochter Lisa M.* (†8) im Februar 2022 heimtückisch ermordet und soll dafür lebenslang ins Gefängnis. Laut dem Verteidiger ist das letzte Wort allerdings noch nicht gesprochen.
Mit seinem Urteil folgte das Gericht der Anklage. Diese wirft Erika M. vor, ihre Tochter in den Könizbergwald nahe der gemeinsamen Wohnung in Niederwangen BE gelockt und dort brutal mit einem Stein erschlagen zu haben – weil sie mit dem Muttersein überfordert war und die Tochter Liebesbeziehungen erschwerte. Laut der Verteidigung alles falsch: Erika M. habe ihre Tochter geliebt und sei zum Tatzeitpunkt zu Hause gewesen.
Laut Gericht kein Zweifel an Erika M.s Schuld
Der Gerichtspräsident ging am Donnerstag nicht auf alle Indizien ein, sagte aber: «Wir haben sehr viele Beweismittel gesehen.» Unter anderem sprach der Richter DNA-Spuren von Erika M. auf der Tatwaffe an, die gemäss der Verteidigung Tage zuvor beim Spielen im Wald darauf gelangt sein sollen. «Die Spuren wurden nur an einer Seite gefunden. Entweder haftet DNA nicht gut an diesem Stein oder die Angeklagte lügt.» Gelogen habe die Angeklagte auch, wie häufig sie beim «Versteck» war – dem späteren Tatort. «Gemäss der Handydaten war sie nur zweimal dort. Am Tatabend und eine Woche zuvor.»
Hauptzeuge der Anklage ist ein damals zwölfjähriger Nachbarsjunge: Er will gesehen haben, wie Erika M. zum Tatzeitpunkt mit ihrer Tochter in den Wald lief. Laut der Verteidigung lügt der Hauptzeuge, um Aufmerksamkeit zu erhalten, und kommt sogar selbst als möglicher Täter infrage. Dieser Theorie schenkte das Gericht keinen Glauben. Der Richter zitierte die Aussage einer Nachbarin. Diese erzählte dem Zeugen am Tag nach der Tat von Lisas Tod, woraufhin der Zeuge «wie aus der Pistole geschossen» zum ersten Mal von seiner Beobachtung erzählte. Dazu sagt der Richter: «Das zeugt von grosser Glaubwürdigkeit.»
Verteidiger will Urteil weiterziehen
Während der knapp einstündigen Urteilsverkündung sass Erika M. regungslos da. Sie wirkte gefasst, doch laut ihrem Verteidiger ist sie vom Urteil «schwer getroffen». In ihrem Schlusswort vergangene Woche bestritt sie die Tat. Das Bestreiten der Tat legt das Gericht aber gegen sie aus. «Es gibt keinen guten Grund, sein Kind zu töten. Jeder mögliche ist krass egoistisch.» Zum Schluss empfiehlt der Richter: «Überdenken Sie Ihre Verteidigungsstrategie.»
Das kommt für Erika M.s Anwalt Moritz Müller nicht infrage: «Meine Klientin war es nicht, da gibt es keine andere Strategie.» Der Weiterzug an die nächste Instanz sei «definitiv», so Müller. «Das Urteil können wir so nicht stehenlassen.» Vom Obergericht erwarte er einen Freispruch. «Ich gehe davon aus, dass die sich die Akten neu anschauen und einen anderen Entscheid fällen werden.»
Staatsanwältin Barbara Jungo ist dagegen zufrieden mit dem Urteil: «Es war auch für uns ein aussergewöhnlicher Fall mit einem sehr jungen Opfer. Das lässt niemanden emotionslos zurück.» Die Kritik der Verteidigung, es sei zu wenig intensiv nach einem Dritttäter gesucht worden, weist sie ab. «Der Einwand ist nicht haltbar. Wir haben in alle Richtungen ermittelt und jeden Stein umgedreht.»
* Name geändert
Staatsanwältin: «Dieser Fall lässt niemanden emotionslos zurück»
Die zuständige Staatsanwältin zeigt sich gegenüber Blick zufrieden mit dem Urteil. «Es war auch für uns ein aussergewöhnlicher Fall mit einem sehr jungen Opfer. Das lässt niemanden emotionslos zurück.» Die Kritik der Verteidigung, nach dem Dritttäter sei zu wenig intensiv gesucht worden, weist sie ab. Der Einwand sei nicht haltbar, so die Staatsanwältin. Die Kantonspolizei Bern habe «hervorragende Arbeit» geleistet. In einem Indizienprozess wie diesem seien die Ermittlungen sehr aufwendig.
Anwalt von Erika M.: «Ich verstehe es nicht»
Moritz Müller, der Anwalt der angeklagten und jetzt verurteilten Erika M., zeigte sich nach dem Prozess ernüchtert. «Ich verstehe es nicht. Ich verstehe das Urteil nicht. Ich werde es weiterziehen.» Man werde Vorbereitungen für die nächste Verhandlung in die Wege leiten. Das Urteil habe die Mandantin schwer getroffen, so Müller weiter.
Prozess beendet
Damit schliesst der Richter die Verhandlung.
«Es gibt keinen guten Grund, sein Kind zu töten»
Das Gericht hoffe, dass Erika M. vor der Tat mit ihrer Tochter gespielt habe. «Wir hoffen, dass das Mädchen nichts geahnt hat. Dass sie nichts gespürt hat und schnell bewusstlos wurde.»
Für die Tat hätte Erika M. nie einen Grund genannt, fährt der Richter fort. «Es gibt aber auch keinen guten Grund, sein Kind zu töten.» Alle Gründe, die sich das Gericht vorstellen könnte, seien «krass egoistisch». Zudem sei ganz klar, dass Erika M. bei der Tat heimtückisch vorgegangen ist.
«Nur eine lebenslange Freiheitsstrafe ist hier angemessen», so der Richter. Wodurch eine Entlassung frühestens ab 15 Jahren möglich wäre. Die bisherige Haftzeit wird angerechnet.
Keine Tat im Affekt
Für das Gericht ist klar, dass die Tötung von Lisa keine Tat im Affekt war. «Die Angeklagte liess ihr Handy zu Hause, um sich ein Alibi zu verschaffen. Das spricht klar für eine geplante Tat.» Doch gemäss dem Richter war die Tat wohl nicht lange geplant, da Erika M. am Tag zuvor einer Bekannten erzählte, dass sie mir Lisa zum Versteck gehen wolle.
DNA-Spuren sprechen für die Schuld von Erika M.
Ebenso würden die DNA-Spuren an der Tatwaffe, einem acht Kilo schweren Stein, für die Anklage sprechen, so der Richter. Erika M. gab an, dass sie den Stein bei den mehrfachen Besuchen mit ihrer Tochter immer wieder verschoben habe. Dazu sagt der Richter nun: «Es wurden neben Blut und Haaren des Opfers nur DNA-Spuren der Angeklagten an einer Seite gefunden. Entweder haftet DNA nicht gut an diesem Stein oder die Angeklagte hat gelogen.»
Verhalten nach dem Auffinden der Leiche
Auch das Verhalten von Erika M. legt der Richter gegen sie aus. «Nach dem Auffinden der Leiche hat sie ihre Tochter kaum berührt. Dennoch sagte sie, dass sie sofort wusste, dass hier eine Gewalttat vorliegt, und sie wolle damit nicht in Verbindung gebracht werden.» Unter den Umständen sei das eine sehr komische Aussage.
Gericht glaubt Hauptzeuge
Der Richter geht nun zum Hauptzeugen über. Der damals zwölfjährige Nachbarsjunge will gesehen haben, wie Erika M. und Lisa M. am Tatabend gemeinsam in den Wald gelaufen sind. Gemäss der Verteidigung hat er gelogen, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Doch dieser Version glaubt das Gericht nicht. Der Gerichtspräsident sagt: «Weil seine Aussage so wichtig ist, haben wir sie ganz genau angeschaut. Wo, wann und unter welchen Umständen er seine erste Aussage gemacht hat.» Dazu zitiert der Richter die Aussage einer Zeugin, der gegenüber der Hauptzeuge zum ersten Mal von seiner Beobachtung erzählte. «Sie sagte, er habe es wie aus der Pistole geschossen erzählt. Das zeugt von grosser Glaubwürdigkeit.» Zudem kannte der Hauptzeuge sowohl das Opfer als auch ihre Mutter. «Dass er nicht die genaue Bekleidung beschreiben kann, ist in dieser Situation normal. Es wäre sogar komisch, wenn er zu viele Details hätte nennen können.»
Auch die Handydaten des Hauptzeugen würden mit seinen Aussagen übereinstimmen. Der Verteidiger machte geltend, dass der Weg, der von den Polizeihunden rekonstruiert wurde, nicht mit den Aussagen des Hauptzeugen übereinstimmt. Doch das ist laut dem Richter kein Grund, an dessen Aussagen zu zweifeln. «Die Hunde zeigen nicht absolut perfekt jede Bewegung an. Zudem ist der rekonstruierte Weg der, den das Opfer jeweils zu seinen Grosseltern genommen hat.»
Erika M. war nur zweimal beim «Versteck»
Dann geht der Richter den Ablauf der Woche vor der Tat Tag für Tag durch. Erika M. hatte Ferien und gab an, dass sie in dieser Zeit fast täglich mit ihrer Tochter beim gemeinsamen «Versteck» im Wald war. Doch wie der Richter nun ausführt, stimmt das nicht. «Die GPS-Daten ihres Handys zeigen, dass die Angeklagte nicht die Wahrheit gesagt hat. Sie war nur zweimal dort.» Dafür würde auch sprechen, dass die Fotos von dem Ort nur vom ersten Besuch stammten.
«Es kann nicht nur, sondern es muss»
«Es kann doch nicht sein, dass eine Mutter ihr Kind so tötet und dann liegenlässt. Dieser Gedanke war auch in unseren Köpfen», beginnt der Gerichtspräsident seine Urteilsbegründung. Doch die Ermittlungen hätten etwas anderes gezeigt. «Es kann nicht nur, sondern es muss. Wir haben sehr viele Beweismittel gesehen, die für diese Geschichte sprechen.»
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