Sie feiert dieses Jahr ihren 100. Geburtstag und erfüllt sich einen lang gehegten Wunsch: Anna Gutknecht (99) wagt sich auf einen Helikopter-Rundflug über die Berner Alpen. Leisten kann sich das die alte Dame wegen der Wiedergutmachungsinitiative – sie ist ein ehemaliges Verdingkind. Dank der Initiative von Unternehmer Guido Fluri (51) können Betroffene einen Solidaritätsbeitrag für das erlittene Unrecht beantragen. Anna Gutknecht wurde der Betrag bereits zugesichert.
Mit neun wurde Anna Verdingkind
Anna ist fünf Jahre alt, als der Vater stirbt. Beim Holzen verunglückte er tödlich – in Grindelwald in den 1920er-Jahren eine Katastrophe für die Familie. Anna bleibt mit ihren vier Brüdern alleine bei der Mutter zurück. Als Anna neun Jahre alt ist, kündigt die Mutter an, dass sie zusammen nach Thun fahren. Dort wartete ein fremder Mann, man ging gemeinsam zum Mittagessen.
«Nach dem Essen sagte der Mann, dass wir wieder ins Auto steigen können», erzählt Anna. In Golzwil hält der Wagen an, ihre Brüder steigen aus, die Mutter auch, sie sagt nur: «Du kannst noch sitzen bleiben und Auto fahren.» Es ist das letzte Mal, dass Anna ihre Mutter gesehen hat.
Anna kommt zu einer Pflegefamilie nach Beinwil, ein Vorgehen, das in dieser Zeit üblich ist. Tausende von Kindern wurden auf diese Weise fremdplatziert, zur Arbeit gezwungen und oft nicht nur lieblos behandelt, sondern auch missbraucht und geschlagen. An Gewalt erinnert sich Anna. Einmal, als sie die Milch verschüttete, setzte es schwere Schläge. Immer wieder wurde sie bei anderen Familien untergebracht, zwischenzeitlich auch bei den Grosseltern. Warum, das kann die alte Dame auch nicht erklären.
Ihr Vormund verhinderte eine Schneider-Lehre
«Ich hätte gerne eine Ausbildung zur Schneiderin gemacht», erzählt sie. Aber der Vormund wollte davon nichts wissen. Es genüge, wenn sie bügeln und waschen könne, eine richtige Lehre konnte sie nie machen. Sie heiratete zweimal. Die erste Ehe sei «gar nicht gut gegangen», nach drei Jahren kehrt sie mit ihrer Tochter nach Bern zurück und arbeitet für einen kleinen Lohn als Wäscherin. Die zweite Ehe hält 28 Jahre, heute hat Anna viele Urenkel und lebt im Altersheim in Kerzers.
Zur Seite steht ihr Rolf Seiler (75), ebenfalls ein ehemaliges Verdingkind. Er litt als Neunjähriger an Meningitis, die nie diagnostiziert wurde – stattdessen stufte man ihn als «arbeitsfaul» ein. Der Kontakt zur Familie wurde von den Behörden verboten, und er wurde regelrecht ausgesetzt. Anna lernte ihn bei einem Anlass für Verdingkinder kennen, er ermutigte sie, sich ihren Traum zu erfüllen und ihren Solidaritätsbeitrag einzufordern. Die Frist für die Einreichung läuft am 31. März ab. Für Rolf Seiler unbegreiflich: «Die sollte verlängert werden, und zwar ohne Enddatum. Damit alle Betroffenen eine Chance auf Wiedergutmachung haben.»
Ihre Heimat Grindelwald erstmals von oben gesehen
Für Anna wurde damit ein Traum wahr. «Mir fehlen die Worte, es war so wunderbar», meinte sie nach dem 30-minütigen Flug. Ihre Heimat Grindelwald hat sie über 20 Jahre nicht mehr gesehen, und jetzt das erste Mal von oben: «Es dünkt mich zehnmal grösser. Aber zum Glück gibt es keine Betonblöcke.» Ihren Unterstützer Guido Fluri traf sie zum ersten Mal, er will sich weiterhin für Menschen wie Anna Gutknecht engagieren. «Wir kämpfen bis zur letzten Minute, damit möglichst viele Betroffene von ihrem Recht erfahren und den Mut finden, sich zu melden.»
Noch bis 31. März können Betroffene ein Gesuch einreichen. Formulare sind online unter www.fszm.ch oder telefonisch unter 058 462 42 84 erhältlich.