Nun ist er also da, der Lockdown light. Nach wochenlangem Zaudern hat sich der Bundesrat am Freitag durchgerungen, Restaurants und Freizeitanlagen zu schliessen – Schulen und Läden hingegen bleiben offen.
Zum Umdenken beigetragen hat der eindringliche Warnruf der grossen Krankenhäuser. In einer konzertierten Aktion forderten die Direktoren der fünf Unispitäler von Basel, Bern, Zürich, Lausanne und Genf den Bundesrat vor einer Woche auf, einen schweizweiten Shutdown zu verhängen. Nur der könne das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch bewahren.
Nach dem dramatischen Appell, den die «SonntagsZeitung» publik gemacht hatte, ging ein Ruck durch die Schweiz. Reihenweise wechselten Politiker und Kantone, die sich stets gegen weitreichende Einschränkungen gesträubt hatten, ins Lager der Shutdown-Befürworter.
Sogar Economiesuisse-Chefin Monika Rühl (57), Direktorin jenes Wirtschaftsverbandes, der sich zuvor gegen Schliessungen ausgesprochen hatte, räumte ein: «Wir haben keine andere Wahl.»
Einer der fünf gewichtigen Mahner war Uwe E. Jocham (58), Direktionspräsident der Berner Insel-Gruppe. Der Entscheid des Bundesrats überzeugt ihn nicht.
Zwar begrüsst Jocham die getroffenen Massnahmen: «Ich bin froh, dass unser Appell gehört wurde.» Er sagt aber auch: «Die neuen Vorschriften gehen zu wenig weit.»
«Jeder Tag zählt»
Um die Spitäler zu entlasten, brauche es schärfere Massnahmen – ähnlich wie bei der ersten Welle. Der Insel-Chef: «Die Situation in den Spitälern ist jetzt schon prekär und spitzt sich weiter zu. Jeder Tag zählt.» Besonders fatal findet der Spitalmanager, dass der Bundesrat davon abgesehen hat, die Skipisten zu schliessen. Zum einen seien das Ansteckungsorte, zum anderen belasteten Skiunfälle das Gesundheitssystem zusätzlich.
Enttäuscht ist Jocham auch darüber, dass die Regierung weiterhin Ausnahmen zulässt. Kantone, in denen der R-Wert unter 1 und die Anzahl Neuansteckungen unter dem Schweizer Durchschnitt liegen, müssen nicht alle Verschärfungen mittragen.
Die Ausnahmeklausel wird voraussichtlich rege genutzt. Alle Kantone der Romandie mit Ausnahme des Juras haben beschlossen, Restaurants und Bars vorerst offen zu halten – obwohl sich die epidemiologische Lage inzwischen auch in der Welschschweiz wieder verschlechtert.
Jocham: «Ich hätte mir gewünscht, dass der Bundesrat Regelungen trifft, die zwingend für die gesamte Schweiz gelten.» Von blossen Appellen an die Bevölkerung und den gesunden Menschenverstand hält der Spitaldirektor wenig: «Wir haben in den letzten Monaten immer wieder gesehen, dass diese wirkungslos sind. Es geht nur mit klaren Vorschriften und klaren Verboten.»
Rolf Zehnder (52), Direktor des Kantonsspitals Winterthur, versucht es noch einmal mit einem Aufruf an die Bevölkerung. «Jetzt liegt es an uns allen!», mahnt er. Nur wenn jede und jeder direkte Kontakte auf ein Minimum reduzierten, könnten in den Spitälern weiterhin alle Patienten gut versorgt werden.
Funktioniere das nicht, werde dem Bundesrat nichts anderes übrig bleiben, als noch vor Ende Jahr «scharfe Zwangsmassnahmen» zu ergreifen.
Klar ist: Die Situation in den Spitälern wird sich so schnell nicht bessern. Die am Freitag getroffenen Massnahmen dürften auf den Intensivstationen frühestens im neuen Jahr zu einer Entspannung führen.
Über 700 Eingriffe verschoben
Noch ist die Lage vielerorts besorgniserregend, das Personal am Anschlag. Um Plätze für Covid-19-Patienten frei zu machen, werden im ganzen Land Tausende Operationen vorübergehend abgesagt. Allein das Berner Inselspital musste seit Oktober mehr als 700 Eingriffe verschieben, am Zürcher Triemlispital waren es in der zweiten Welle über hundert.
Verschoben werden dabei nicht nur harmlose Routineeingriffe, sondern auch grosse Herz- und Krebsoperationen. «In erster Priorität werden Eingriffe verschoben, die zwingend Intensivkapazitäten erfordern würden», sagt Maria Rodriguez, Sprecherin des Stadtspitals Waid und Triemli. Das seien zum Beispiel Herzoperationen oder grosse Tumor-OPs im Bauchraum.
Auch an anderen Spitälern mussten solche Operationen verschoben werden, darunter an den Unispitälern in Basel und Zürich. Nicolas Drechsler, Sprecher des Basler Universitätsspitals: «Aufgrund der reduzierten OP-Kapazitäten kommt es vor, dass wir Eingriffe längerfristiger planen müssen, als das ohne Covid der Fall wäre – auch Krebsoperationen.» Dies sei etwa bei Brust- oder Hodenkrebs der Fall. Aber auch bei Eingriffen am Herz wie Bypassoperationen.
Medizinisch ist das laut Drechsler «im vertretbaren Rahmen», weil sich die Prognose durch die Verzögerung nicht verschlechtert. Für die Betroffenen seien die Wartezeiten aber eine grosse psychische Belastung. In manchen Fällen müssten die Patienten länger Schmerzen ertragen.
Für den Fall, dass sich die Lage weiter zuspitzt, existieren in mehreren Städten Notfallpläne. Zürich hat zwei Turnhallen der Kantonsschule Rämibühl zu einer Notklinik umfunktioniert, Winterthur ZH das Konzept für ein Behelfsspital ausgearbeitet.
Im Berner Inselspital könnten Aufwachräume für Covid-Patienten genutzt werden, so Sprecherin Petra Ming. In diesem Fall müsste man dann jedoch von «Katastrophenmedizin» sprechen.
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