Die Schweiz habe sich am Holocaust mitschuldig gemacht. Davon ist der Basler Geschichtsprofessor Erik Petry (61) überzeugt. Der Stellvertretende Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Universität Basel hält der Schweiz vor, dass sie sich der Erinnerung verweigere. Dieses Geschichtskapitel werde einfach ignoriert, sagte Petry unlängst bei einem Vortrag in Konstanz. Es mangele der Schweiz seit Ende des Zweiten Weltkrieges an Mahnmalen, Organisationen, Netzwerken und anderen Formen von Gedenken an die jüdischen Flüchtlinge und Opfer des Holocausts vor und während des Zweiten Weltkriegs.
Historiker Petry wirft der Schweiz nicht nur Verrat an Juden vor. Die Schweiz habe auch viele Vorteile aus Bank- und Waffengeschäften mit den Nazis gezogen, wie der «Südkurier» aus dem Vortrag von Petry resümiert. Schon die USA hätten behauptet, so Petry, die Schweiz sei auch schuldig, da sie mit ihrem Waffenexport an die Nationalsozialisten den Krieg verlängert habe.
Doch viele Eidgenossen dächten, sagt Petry, ihr Land sei während des Krieges neutral und nicht in Kampfhandlungen verwickelt gewesen. Die Schweiz wolle und könne sich gar nicht an das Schicksal von geflüchteten Juden erinnern, denen sie das Bleiberecht verweigert habe.
Kaum Schweizer Erinnerungsarbeit
Demnach war zwar vielen Juden die Flucht in die Schweiz gelungen, doch Zugehörigkeit zum Judentum wurde damals nicht als Asylgrund anerkannt. Auch bei Flüchtlingen, die nur einen Monat bleiben wollten, um dann weiterzureisen, lautete der Abschiebegrund häufig «Überfremdung», so Petry – ein Begriff, der damals im politischen Diskurs entstanden war: Es gebe zu viele Ausländer in der Schweiz, das Land sei dafür zu klein, «das Boot ist voll».
Rund 1000 Juden, die in der Schweiz gelebt haben oder sonstwie Kontakt zum Land hatten, wurden in Konzentrationslagern umgebracht. An diese Menschen «denkt heute niemand», sagt Petry. Als Hinterbliebene Zugang zum Vermögen ihrer Familie auf Schweizer Bankkonten gefordert hätten, sei von den Banken ein Beweis der Verwandtschaft durch einen Totenschein gefordert worden. Dabei war bekannt, dass in den Konzentrationslagern keine Totenscheine erstellt wurden.
In der Schweiz gebe es kaum Erinnerungsarbeit an dieses dunkle Kapitel. Die Erinnerungsarbeit werde seit eh und je von den jüdischen Gemeinden selbst getragen, nie vom Schweizer Bund finanziert.
Schulreise nach Auschwitz
In der Schweiz gebe es zwar rund 50 Erinnerungsorte, die jedoch nicht von Gemeinde oder Regierung initiiert, sondern von jüdischen Stiftungen und Gemeinden finanziert und errichtet wurden. Denn es herrsche in der Schweiz die Meinung hervor, dass Juden nicht zur Schweiz gehörten.
Inzwischen habe sich «der Knoten gelöst», sagt Petry. Der Bund übernehme Kosten für Erinnerungsarbeit. Auf Bundesebene werde an einem Projekt gearbeitet, das der Opfer gedenkt. Den öffentlichen Diskurs habe die Fernsehserie «Frieden» angekurbelt. Sie beruht unter anderem auf dem Buch «Gegen den Strom der Finsternis» von Charlotte Weber. Eine Schweizerin, die das Kinderheim «Felsenegg» auf dem Zugerberg leitete und dort jüdische Kinder aus dem KZ Buchenwald aufnahm.
Das Interesse unter Studenten an der Universität Basel sei gross, die Geschichte aufzuarbeiten. Für Petry ist das noch immer nicht genug. Er will, dass Schulklassen aus der Schweiz nach Auschwitz fahren und sich die Gedenkstätte anschauen. Viele Schweizer hätten einfach keine Ahnung, wenn es zum Thema Juden und Krieg komme. (kes)